Unerwartet

Ein Freitagabend im Krankenhaus. Reichlich Arbeit. Ambulanz, Intensivstation, periphere Stationen, alle Probleme nur für den Diensthabenden.

Sie kam mit Rückenschmerzen. Kolikartig, ins Becken ziehend. Mollig, Ende Dreissig. Eine vernünftige Frau, gebürtig hier, beunruhigt durch diese unerklärlichen, zunehmenden Krämpfe.
Zugang, Blutentnahme, Infusion, Ausruhen auf der Untersuchungsliege in der Ambulanz, Fiebermessen. Wahrscheinlich Nierensteine oder Nierenbeckenentzündung, oder? Schaut sich der Arzt später an; erstmal den Gomer untersuchen, der gerade nebenan mit Fieber aus dem Heim eingeliefert wurde.

Wenig später: “Doktor, schaust Du nochmal nach der Dame mit den Koliken, es wird nicht besser.”

Also, was ist mit diesem Rücken? Nierenlager klopfschmerzhaft? Der Bauch ist ziemlich dick. Sehr dick und rund. Was ist das? Keine Luft, kein Aszites, keine Adipositas. Ein Baby! Na klar, ein schwangerer Bauch. Der Arzt, Vater vieler Kinder, hat die Handgriffe gelernt: Hier der Rücken, da der Kopf, im Becken.
Die Frau ist offensichtlich hochschwanger. “Sie sind schwanger und zwar sehr.” “Ich, schwanger? Nein, sicher nicht.” Aha.

Diese Dame ist schwanger und weiß nichts davon. Gibt es das? Der Arzt denkt an seine Lehrbücher und an die Geschichten aus der Boulevard-Presse: hysterische Scheinschwangerschaften, überraschende Sturzgeburten, zurückgelassene Neugeborene. Niemand hat etwas gemerkt. “Frauen sind potentiell immer schwanger, ob sie es wissen oder nicht. Vor dem Röntgen: Schwangerschaftstest. Dann kannst Du sicher sein.”

Während die Patientin dem Arzt erklärt, warum eine Schwangerschaft nicht möglich ist – Lebenspartner verlassen und so weiter – sucht der nach der versteckten Kamera. Das ist doch nicht wahr, oder? Wie kann jemand neun Monate Schwangerschaft ignorieren? Oder verdrängen? Frauen sind sonderbare Wesen. Immer muss man mit allem rechnen. Oder liegt der Arzt daneben? Gibt es Bauchtumoren, die sich anfühlen wie Babies? Ein Ultraschall wird Klarheit bringen.

Sonographie: Ja, schauen Sie: Hier ist der Rücken, da der Kopf, das Herzchen schlägt kräftig. Ein großes Kind in ihrem Bauch. Nein, Doktor, ich kann nicht schwanger sein. Da kommen die Krämpfe wieder. Wehen! Na klar. Die Entbindung steht an.

Draussen, auf dem Flur, sitzt der Partner. Versöhnung vor ein paar Wochen. Schwangerschaft? Ein Baby? Nein, ganz bestimmt nicht. Na, dann kommen Sie mal mit. Rauf in der Kreissaal.

Eine knappe Stunde nach ihrer Vorstellung in der Ambulanz entband die Dame ein gesundes Mädchen.
Völlig unvorbereitet. Unerwartet. Ohne Mutterpass und Laborkontrollen. Gegen ärztlichen Rat, sozusagen.

Zuhause gab es kein Kinderzimmer. Keinen Kinderwagen. Keine rosaroten Strampler. Sie haben sich trotzdem gefreut.

Beide. Sehr sogar.

Aufgeregt

Der Hausarzt hatte die Patientin angemeldet: “Schauen Sie doch bitte mal dort vorbei. Die Dame ist bekanntermaßen etwas aufgeregt. Beruhigen Sie sie einfach.”

In der Wohnung angekommen fand der Arzt die Dame wirklich etwas aufgeregt. Auch atemlos. Die weichen, eindrückbaren Unterschenkel und die feuchten Rasselgeräusche über der unteren Lungenhälfte waren deutliche Hinweise auf eine dekompensierte Herzschwäche. Dazu passte dann auch der Krankenhaus-Entlassungsbrief vom Vorjahr: Global dekompensierte Herzinsuffizienz.

Die Aufregung hatte also einen Grund, der Rettungswagen holte die Dame ab, nachdem sie Nitro und Furosemid bekommen hatte. Und der Arzt merkte sich: Besser ist es ein eigenes Urteil zu bilden.