Dr. Kunze hört (nicht) auf 4

Oktober 2008
Duzen – Siezen
Dr. Kunze öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer und begrüßte eine junge Frau, die ihm bekannt vorkam. Ja, er kannte sie ganz sicher, aber er konnte nicht sagen, wer sie war. Sie lächelte und sagte nichts, sie ließ ihn denken. In seinem Kopf kreisten Bilder eines Mädchens, einer Jugendlichen, die jetzt eine junge Dame war.
Dörte! Richtig, Dörte!
Der Arzt setzte sich auf den zweiten Patientenstuhl neben sie. Er freute sich, die junge Frau nach der langen Zeit wiederzusehen und wollte einfach mit ihr reden. Sie sprachen eine Weile über alte Zeiten, über Kinderkrankheiten, Schwierigkeiten in der Schule und in der Pubertät, heftige Auseinandersetzungen mit den Eltern und mit den Lehrern. Ja, sie war das gewesen, was ein Nachbar mal einen Satansbraten nannte.
„Darf ich überhaupt noch Du sagen?“
Dörte lächelte, ein helles, freundliches Lächeln.
„Aber ja, das käme mir seltsam vor, wenn Sie mich siezten.“
Er nickte. Wie oft war ihm das seltsam, wenn er Erwachsene traf, die er als Säuglinge, Kleinkinder oder Teenager gekannt hatte. Die Sache mit dem Duzen und Siezen bereitete ihm immer wieder Probleme, mehr als den jungen Erwachsenen. Elegant fand er den Weg über die Beibehaltung des Vornamens inklusive Sie als Zwischenschritt, um später dann ganz auf Sie und den Nachnamen überzugehen. Aber so viel für diese Lösung sprach, barg sie doch den entscheidenden Nachteil einer zusätzlichen Anforderung an sein Gedächtnis. Wie war noch der Vorname? Nicht immer war der Bildschirm mit den Patientenangaben im Blick.
Überdies waren junge Leute selten krank. Häufig vergingen Jahre von einem bis zum nächsten Kontakt. Außerdem konnte sich Anselm Kunze unmöglich daran erinnern, wie er beim letzten Mal verfahren war. Hatte er den neunzehnjährigen Max noch geduzt, ihn vier Jahre später schon gesiezt? Auf jeden Fall. Oder? Nein, zuletzt hatte er die Übergangsvariante mit Vornamen und Sie benutzt.
Dr. Kunze wusste, dass er in der Vergangenheit die verschiedensten Varianten verwendet hatte, eben auch bei ein- und denselben Patienten in wechselnder Reihenfolge.
„Hallo Max, was kann ich für dich tun?“ „Setzen Sie sich doch, Max.“ „Wie geht es Ihnen, Herr …?“ „Hallo Max, schön dich zu sehen.“
Und weil ihm die Anrede viel bedeutete und er wusste, dass in dieser Hinsicht immer weniger Verlass auf sein Gedächtnis war, hatte er einen Eintrag ganz oben auf der Patientenkarte erfunden, mit dem er neuerdings auch den Computer fütterte. Ein blaues D für Duzen, ein rotes S für Siezen und ein grünes D/S für den Übergang. Sein nachlassendes Gedächtnis war übrigens auch ein Grund für seine Gedanken an eine mögliche Praxisaufgabe. Aber das behielt er für sich, das ging niemanden etwas an.
Und nun Dörte. Sie war jetzt also erfolgreiche Reisekauffrau und kam gerade aus Alaska zurück, vorher war sie in Thailand und Australien gewesen.
„Toll, nicht wahr? Reisen als Beruf, das war immer mein Traum.“
Ein Traum, ja. Dr. Kunze freute sich, aber nicht so richtig. Irgendetwas stimmte nicht, aber er nickte lächelnd, während Dörte von der bevorstehenden Reise nach Brasilien sprach. Der neuerliche Auslandsaufenthalt war auch der Grund ihres Erscheinens, sie wollte sich nach den nötigen Impfungen erkundigen.
Sie waren also vom Privaten zum Offiziellen gekommen und Dr. Kunze wechselte seinen Platz. Er setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl, der Patientin gegenüber, den Computerbildschirm im Blick.
Mit einem Mal erkannte der Hausarzt, was nicht stimmte, und warum ihm die Situation so bekannt vorgekommen war. Auf der Karteikarte stand ein blaues D, es war durchgestrichen. Daneben stand ein grünes D/S – ebenfalls durchgestrichen, bewusst nicht gelöscht, sozusagen als Verlaufskontrolle. Es folgte ein großes rotes S, mehrfach wiederholt und nicht durchgestrichen, sondern mit fettgedrucktem Ausrufungszeichen auf das noch zwei weitere folgten – zur besseren Erinnerung.

 

 

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