November 2008
Die lieben Kleinen
„Mein Kind isst nur Pommes und Cornflakes.“
So begann Dr. Kunzes Lieblingsgespräch über Kinderernährung. Allerdings verkniff er sich längst die Nachfragen: Und wer gibt Ihrem Sohn Pommes und Cornflakes? Oder: Geht Ihr Dreijähriger schon selbst einkaufen?
Einmal hatte er in dieser Art geantwortet, eine ebenso endlose wie fruchtlose Diskussion war die Folge gewesen. Andererseits mochte sich der Hausarzt in seinem Alter nicht mehr verbiegen. Irgendwie musste er der Mutter klarmachen, dass nicht das Kind den Fehler machte, sondern sie selbst. Wahrscheinlich im Einklang mit dem Vater und den Großeltern. Das Kind holte lediglich das Bestmögliche aus jeder Mahlzeit heraus, das Bestmögliche nach seinem Geschmack.
„Und wann isst es Pommes und Cornflakes?“
„Cornflakes zum Frühstück und Pommes zu Mittag und zu Abend.“
Immerhin, dachte Dr. Kunze, der schon damit gerechnet hatte, der kleine Spatz würde die Pommes morgens vertilgen.
„Und die Pommes mit Ketschup, nehme ich an.“
„Ja, aber nur mit dem Grill-Ketschup von Bunny, alle anderen Sorten mag er nicht. Und glauben Sie mir, mein Süßer merkt das sofort.“
Dann schicken Sie ihn doch zu Wetten, dass…?, dachte Dr. Kunze, sagte aber nichts. Zyniker war er nur in Gedanken, wie viele seiner Kollegen.
„Isst er Kartoffeln?“
„Nein, nur Pommes und Cornflakes.“
Soviel zur Zuordnung von Nahrungsmitteln. Der Hausarzt hatte ähnliche Antworten schon vorher erhalten. Isst Ihre Kleine Schweinefleisch? Nein, nur Mortadella. Kunze riss sich aus seinen Gedanken.
„Isst er Nudeln?“
Dumme Frage, die gleiche Antwort. Dr. Kunze trieb das Spielchen noch eine Weile mit verschiedenen Gemüse- und Obstsorten, Käse und Wurst. Die Mutter war genervt. Zum x-ten Mal antwortete sie:
„Nein, nur Pommes und Cornflakes.“
Der Hausarzt beugte sich zur untersten Schublade seines Schreibtischs, zog sie auf, raschelte ein wenig darin und tauchte wieder auf. Er hielt dem Spätzchen ein Stück Schokolade hin, das so schnell in dem Mündchen verschwunden war, dass der Arzt kaum die Bewegung verfolgen konnte.
„Aha. Nur Pommes, Cornflakes und – Schokolade.“
Die Mutter verstand den Wink nicht und Dr. Kunze war längst über das Stadium hinaus, in dem er glaubte, dass solche Mütter ihn veralbern wollten. Aber er spürte die zunehmende Mattigkeit, während er solche Gespräche führte. Er mochte die junge Mutter, sie hatte hier schon selbst mit ihrer Mutter gesessen. Hatten sie damals nicht über Essprobleme gesprochen? Dr. Kunze konnte es nicht beschwören, aber ihm war so.
Die junge Frau begann zu weinen. Sie war tatsächlich verzweifelt und verstand erst jetzt den Wink mit der Schokolade. Sie fühlte sich ertappt. Natürlich aß ihr Junge auch Süßigkeiten. Sie hatte ja nur die Hauptmahlzeiten gemeint.
„Was soll ich nur machen? Ich bin so unglücklich.“
Dr. Kunze wurde weich, wie er immer weich wurde angesichts junger Mütter, die sich um ihren Nachwuchs sorgten und überfordert waren.
„Fahren Sie mit Ihrem Mann und dem Kleinen eine Woche in ein Ferienhaus an die See.“
„Das soll helfen?“
„Kaufen Sie alles an Proviant ein, was Sie wollen, außer Cornflakes, Pommes und Süßigkeiten, und wechseln Sie sich in der Betreuung Ihres Kindes ab. Einer von Ihnen sollte am Strand spazieren gehen oder ins Kino.
„Der schreit uns das Haus zusammen.“
„Ja, aber Sie sind dann nicht in Ihrer Etagenwohnung, und außerdem macht er das nur die ersten beiden, maximal drei Tage, dann ist Ruhe. Ich verspreche es Ihnen. Und keine Sorge, verhungern wird Ihr Kleiner nicht. Fahren Sie aber alle zusammen, damit sie sich ablösen können. Sonst halten die Nerven nicht.“
„Das macht mein Mann nie.“
„Schicken Sie ihn zu mir.“
„Meinen Sie das ernst?“
„Aber ja.“
„Aber er ist gar nicht Patient bei Ihnen.“
„Ich weiß, aber Sie und das Kind. Ich möchte nicht, dass in unserer heutigen Gesellschaft ein Kind an Mangelerscheinungen erkrankt.“
Das saß! Mangelerscheinungen waren nicht akzeptabel.
„Wenn mein Mann nicht will, kriege ich das auch alleine hin. Danke! Und auf Wiedersehen.“
Der Kleine wollte noch nicht los. Er schrie nach mehr Schokolade, aber da hatte er sich getäuscht. Er war so schnell von seiner Mutter vor die Tür gesetzt, dass er sogar das Weinen vergaß.
Das sind die Probleme von heute und morgen, dachte Dr. Kunze erschöpft. Und meine Vorschläge? Sind die von gestern?