Das Kapitel „Bandscheibe“
Zu den Segnungen der heutigen Medizin gehört es, dass Bandscheibenvorfälle eindeutig im Kernspintomogramm erkannt werden können (auch Magnetresonanztomogramm=MRT genannt). In vielen Krankheitsfällen kommt es mittels dieser Untersuchung zu einer sicheren Diagnose.
Diese beiden einleitenden Sätze zum Thema Bandscheibe in der „Röhre“ schreien geradezu nach einem ABER. Hören Sie es auch? Es sind sogar zwei ABER, die in diesen ersten beiden Sätzen stecken. Ein Hausarzt hat damit tagtäglich zu tun.
ABER Nr. 1: Die allermeisten Bandscheibenvorfälle haben Ärzte, insbesondere neurologisch halbwegs ausgebildete, auch schon vor dem Zeitalter des MRT diagnostiziert. Jedenfalls diejenigen Bandscheibenvorfälle, die eine klinische Bedeutung hatten und haben.
Was heißt das? Ein Bandscheibenvorfall kann nicht nur Schmerzen verursachen, sondern auch zu Ausfällen von Nervenfunktionen führen, bis hin zum Verlust von Reflexen oder Sinneswahrnehmungen in den betroffenen Nervenabschnitten. Mit dem Reflexhammer, mit einer Nadel, einem Pinsel und den Händen des Arztes, sind derlei Nervenschädigungen zu erkennen. Die vorgefallene Bandscheibe quetscht das Rückenmark und die entsprechenden Nervenfasern nehmen es übel. Allerdings gibt es auch Bandscheibenvorfälle, die nicht zu Bewegungsausfällen oder Gefühlsverlusten führen, sie lösen ausschließlich Schmerzen aus, vielleicht nicht einmal das. Mit dieser Art von symptomarmen oder symptomfreien Bandscheibenvorfällen hat es der Arzt mit bloßen Händen und den oben genannten Werkzeugen natürlich schwer. Sie sind kaum nachzuweisen. Dazu wäre dann das MRT geeignet. Allerdings!
Warum müssen wir von beschwerdearmen oder beschwerdefreien Bandscheibenvorfällen so genau wissen, dass es Bandscheibenvorfälle sind?
Eine operative oder sonstwie eingreifende Therapie kommt in diesen Fällen doch wohl nicht in Frage. Schmerztherapie und physikalische Therapie (Krankengymnastik, Bäder, Massagen) sind aber auch ohne hundertprozentige Diagnose fällig, wenn die Beschwerden danach verlangen. Das erste ABER wäre geklärt.
ABER Nr. 2: Die Art Reihenuntersuchung, wie sie heute bei Rückenschmerzen mittels Kernspintomogramm vorgenommen wird, führt zu allerhand Verwirrung und Unsicherheit, übrigens bei Patienten und Ärzten.
Haben Sie beispielsweise Rückenschmerzen und wollen zusammen mit Ihrem Hausarzt oder Orthopäden unbedingt sichergehen, dass Sie keinen Bandscheibenvorfall haben, kommen Sie heutzutage immer öfter in die „Röhre“ oder Sie selbst als Patient verlangen danach. In der „Röhre“ werden dann Bandscheibenvorfälle erkannt. Alle. Kleine oder leichte, Vorwölbungen oder Beinahe-Vorfälle, Narbengewebe von der letzten Bandscheibenoperation und, und, und.
Was bedeutet das nun? Müssen Sie jetzt operiert werden? Wenn Sie „nur“ Schmerzen haben, dann doch wohl nicht. Aber dann hätten wir auch kein MRT gebraucht. Wenn Sie allerdings massive Schmerzen erleiden, ein Bein nachziehen und kein Gefühl mehr darin haben, ist es geradezu ein Kunstfehler, Sie erst ambulant zum MRT oder CT zu überweisen, dann gehören Sie auf eine orthopädische oder neurochirurgische Station. Ob zur Operation oder nicht, wird dort nach intensiver Diagnostik entschieden.
Es kommt noch extremer. Es kann sein, dass in der ambulanten Kernspinuntersuchung ein Bandscheibenvorfall erkannt wird, der gar nicht Auslöser Ihrer Beschwerden ist. Den Vorfall haben Sie vielleicht schon lange und Ihr Rücken hat sich mit ihm arrangiert. Nun werden Sie operiert, weil der Bandscheibenvorfall ja nicht bleiben kann, wo er ist. Dafür bleiben aber Ihre Rückenschmerzen, weil der zufällig gefundene Bandscheibenvorfall nicht Verursacher Ihrer Beschwerden war.
Fazit:
Dieser Artikel ist überspitzt formuliert. Aber die Kernaussage enthält viel Wahrheit. Teils noch mehr gilt diese Wahrheit im Zusammenhang mit MRT-Untersuchungen des Bauches, des Kopfes oder verschiedener Gelenke. Harmlose Zysten, unbedeutende Riefen im Knorpelgewebe, verkalkte Lymphknoten und sonstige anatomische Varianten, sie alle können zu einer Therapie führen, die nicht Ihren Beschwerden entspricht. Und noch einmal: Wer eine „Röhre“ besitzt, sprich der Röntgenarzt, ist auch daran interessiert, dass sie sich rechnet.