Januar 2009
Die lieben Kleinen II
Hausarzt Dr. Anselm Kunze behandelte gern Säuglinge und Kleinkinder. Aber dafür braucht man als Arzt auch Nerven, und die hatte er nicht mehr. Ein weiterer Grund, das Ende seines Praxislebens nicht mehr allzu weit hinauszuschieben. Er öffnete die Tür zum Kindersprechzimmer mit zwiespältigem Gefühl. Noch immer liebte er die Kleinsten unter seinen Patienten, aber er fürchtete auch ihr Temperament und vor allem die Ansprüche der Eltern an ihre Kinder und den Hausarzt.
Dr. Kunze besaß noch immer ein speziell auf die kleinen Patienten zugeschnittenes Sprechzimmer mit Wickeltisch, Wärmelampe, Babywaage, Spielzeug, Lichtschalter und Steckdosen in ein Meter siebzig Höhe. Die Anzahl der Kinder in seiner Praxis war in den letzten Jahren allerdings kontinuierlich zurückgegangen. Ihm selbst erschien die Versorgung von Kindern durch einen alternden Hausarzt beinahe nostalgisch. Aber es gab genügend Eltern, die ihn mochten, weil er nicht bei jeder Kleinigkeit Medikamente verordnete, über Impfungen mit sich reden ließ und den einzelnen Fall sah.
Drinnen begrüßte ihn kräftiges Babygeschrei und eine um Fassung bemühte Mutter. Das konnte ja heiter werden. Die Vorsorgeuntersuchung U 5 stand auf dem Plan, sechs Monate nach der Geburt. Der kleine Junge schien sich schon warm geschrien zu haben. Früher hätte dem Hausarzt so etwas nichts ausgemacht, aber heute weckte ein schreiendes Kind in ihm den Schutzinstinkt eines – allerdings hilflosen – Großvaters. Das Geschrei, statt es wie früher souverän zu ignorieren, brachte ihn aus dem Konzept und machte ihn ganz kribbelig, viel kribbeliger als das Geschrei seiner eigenen Kinder vor Jahrzehnten.
Die junge Mutter zuckte entschuldigend mit den Schultern.
„So ist das schon seit Tagen. Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist.“
Der Junge war ihr erstes Kind. Das Geschrei quälte sie. Eine Mutter mit drei weiteren Kindern zu Hause hörte so ein Krakeelen gar nicht mehr, erzählte dabei in einem fort, als wäre es still im Raum, was Dr. Kunze inzwischen ebenso nervös machte wie das Babygeschrei an sich.
Der Arzt beruhigte sich und die Mutter und bat sie, das Kind auszuziehen. Dr. Kunze schaltete die Wärmelampe auf Stufe 2. Stufe 1 war möglicherweise zu wenig und bei Stufe 3, zusammen mit dem Geschrei, würde ihm der Schweiß den Rücken hinunterlaufen.
Das nackte Menschlein lag vor ihm, kaum ein halbes Jahr alt, Pausbacken, kräftige Arme und Beine. Nun schrie es nicht mehr – es pinkelte. Dr. Kunze wich zurück, aber es war zu spät, der Strahl hatte ihn voll erwischt. Sein Hemd und seine Hose waren nass. Der kleine Junge lächelte, strampelte kräftig mit den Beinen und stieß die Arme seitlich in die Luft, als wollte er sich Platz für seine übersprühende Freude verschaffen. Für den Arzt war die nasse Kleidung nicht so schlimm, wenn das zur guten Laune des Säuglings beitrug.
Er begann mit der Untersuchung, indem er in den Speck der Oberschenkel griff und die Beweglichkeit der Hüftgelenke kontrollierte. Eine Untersuchung, die bei den meisten Kindern noch als Spiel durchging. Der Kleine stieß freudige Ö-Laute aus. Ein niedlicher Junge. Dr. Kunze tastete den Bauch ab. Die gute Laune blieb. Auch als er das Stethoskop aufsetzte, Herz und Lungen abhorchte, später mit der Untersuchungslampe Mund und Ohren inspizierte, das Kind maß und wog, die Reflexe mit schnellen Hebebewegungen testete, blieb es dabei: Das Baby freute sich. Kindervorsorge war doch etwas Schönes.
Das Heben gefiel dem Kleinen besonders. Dr. Kunze wiederholte es ein ums andere Mal, dann kniff er den Kleinen zärtlich in die Seite. Der Säugling tat dem großväterlichen Arzt den Gefallen und lachte laut. Dr. Kunze sprach mit dem Kind in der Sprache, die Erwachsene für Kindersprache hielten, hob ihn wieder in die Höhe, warf in sogar ein Stückchen in die Luft und fing ihn sicher wieder auf. Der Kleine quiekte vor Vergnügen. Dr. Kunze brachte seine Unterlippe mit dem Zeigefinger in Schwung und der Kleine zeigte die ganze Breite seiner zahnfreien Kiefer.
Als Dr. Kunze nach einer Weile wiederum zu den inzwischen sehr beliebten Hebebewegungen ansetzte und der Kleine sich mit kräftiger Beinarbeit in der Luft abzustoßen schien, meldete sich die Mutter. Sie hätte leider noch einen Termin.
„So. Ach, ja. Ja, also, ihr Junge ist ganz gesund. Vorne kommen die Zähne durch, deswegen quengelt er manchmal. Aber sonst ist er ganz gesund. Sie können stolz auf ihn sein. Die Entwicklung läuft ganz hervorragend. Ganz hervorragend.“
Dr. Kunze schaltete die Wärmelampe aus und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. So kleine, putzmuntere Kinder zu untersuchen, gehörte zu den Sternstunden des Arztes. So könnte er noch Jahre weitermachen.