März 2009
Hausbesuch II
Mittags griff Hausarzt Dr. med. Anselm Kunze nach seinem Arztkoffer und verabschiedete sich von Christine. Seine beste Kraft blieb über Mittag in der Praxis, wie immer arbeitete sie die Vormittagssprechstunde nach. Lena, die Auszubildende, war dienstags in der Berufsschule. Dr. Kunzes Ehefrau war bereits zu Hause und kochte das Mittagessen. Frau Ballmer, die Halbtagskraft, musste pünktlich um zehn vor zwölf die Praxis verlassen. Ihre Tochter musste vom Kindergarten abgeholt werden.
Auf dem Parkplatz vor der Praxis traf der Hausarzt auf den Zahnarzt aus dem Nachbarhaus. Dr. Kunze fiel der Name nicht ein. Sein Gedächtnis! Immer wieder sein Gedächtnis! Er sollte sich wirklich um einen Praxisnachfolger kümmern. Den zahnmedizinischen Kollegen beschäftigten ganz andere Probleme – ein neues Auto musste her! Also nichts Neues. Dr. Kunze betätigte die Fernentriegelung seines Wagens. Ein kurzes Fiepen ertönte. Sein Golf schien ihn daran zu erinnern, dass er losmusste. Hausbesuch – erklärte er lächelnd und verabschiedete sich, froh, der quälenden Wahl seines Gegenübers zwischen Jaguar und Porsche zu entkommen.
Tatsächlich hatte ihn Frau Heimfeld angerufen. Sie litt unter starken Rückenschmerzen und hatte ihn um einen Hausbesuch gebeten. Sie brauchte eine Spritze. Das kam gelegentlich vor, nicht so oft, dass es dem Hausarzt zuviel wurde, aber auch nicht so selten, dass er sich Sorgen machen musste.
Dr. Kunze passierte drei Dörfer, bis er das allein stehende Haus erreichte. Ein Hund bellte. Er sah sich um. Nichts zu sehen. Das mochte er nicht. Er wusste gern, woher die Gefahr kam, wenn es denn eine Gefahr gab. Er schnappte sich seinen Arztkoffer von der Rückbank, ging Richtung Haustür und sah sich um. Das Bellen klang jetzt dumpfer, so als hätte jemand den Hund weggesperrt.
Frau Berger öffnete ihm die Tür, die Schwägerin der Patientin.
„Das ist schön, dass Sie kommen, Irmtraud kann sich kaum bewegen. Es ist schon besser, aber heute Morgen war es ganz schlimm.“
Wenn es schon besser ist, hätte sie anrufen und einen Termin in der Praxis vereinbaren können, dachte Dr. Kunze, sagte aber nichts. Keine Diskussion, er wollte zu Mittag essen, Spritze ins Gesäß und dann nichts wie weg.
Frau Heimfeld lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, drapiert in einer Anzahl Kissen. Wenn er so unbequem liegen würde, hätte er auch Rückenschmerzen, dachte Dr. Kunze, grüßte kurz, nahm die Fernbedienung vom Tisch und drückte auf den roten Knopf. Der Fernseher verstummte. Die reflexartige Bewegung eines Hausarztes auf Hausbesuch, dachte er. Die berühmte Handbewegung in der Ratesendung Was bin ich?, spann er weiter und spürte im selben Moment, wie alt er war. Robert Lembke war tot, Hans Sachs und Guido Baumann auch. Und was war mit Anette von Arentin? Marianne Koch lebte noch, dass wusste er.
Die Patientin stöhnte und Dr. Kunze öffnete seinen Koffer. Ein paar belanglose Sätze, eine kurze Untersuchung, dann war die Spritze aufgezogen und verabreicht. Recht schwungvoll hatte sich Frau Heimfeld dabei auf die Seite gedreht, um ihre Pobacke darzubieten. Einerlei. Keine Diskussion. Raus hier und nach Hause an den Mittagstisch. In einer Stunde begann die Nachmittagssprechstunde.
Die Versichertenkarte und die zehn Euro mussten erst gesucht werden, dabei war seit vier Stunden klar, dass der Arzt mittags kommen würde. Dr. Kunze sagte nichts. Irgendwo in einem der Zimmer hörte er wieder den Hund bellen. Mindestens eine beruhigende Wand schien zwischen dem Tier und ihm zu liegen.
Dr. Kunze schloss seinen Koffer. Er reichte der Patientin ein Rezept über Schmerzzäpfchen und verabschiedete sich mit ein paar Verhaltensmaßregeln.
„Danke, ich finde schon allein raus“, lehnte er das mühsame Aufstehen der Patientin ab. Die Schwägerin war nicht mehr zu sehen.
Er öffnete die Haustür und wollte sie eben hinter sich zuziehen, als ihm sein Kugelschreiber einfiel. Er hatte ihn auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen. Knapp bevor die Haustür einrastete, stieß er sie wieder auf. Er wollte in den Flur rufen, dass er seinen Stift vergessen hatte, denn er wollte niemanden erschrecken und vor allem sollte der Aktionsradius des Hundes nicht frühzeitig freigegeben werden. Doch bevor Dr. Kunze den Mund öffnete, hörte er seine Patientin das Treppenhaus hinaufschreien.
„Gertrud, nun müssen wir aber los! Unser Friseurtermin ist in einer Viertelstunde.“
Nicht ärgern. Keine Diskussion. Kugelschreiber? Unwichtig. Ab ins Auto.
Sollte der Kugelschreiber doch bleiben, wo er war.
Nach Hause fahren, Mittag essen, kurz aufs Sofa legen.
Weitermachen.
Und darüber nachdenken, wie der Ausstieg aus der Praxis am besten zu regeln war.