Auflösung zum Beitrag: Lebensbedrohliche Atemdepression nach Schmerztherapie

Der Fall

Eine Patientin kam zur Aufstellung eines Notfallplanes zur stationären Aufnahme. Bei einem chronischen Schmerzsyndrom an der Hand hatte die Gabe einer Vielzahl von weithin üblichen Medikamenten zu lebensbedrohlichen Bewusstseinsstörungen geführt. Ein ähnliches Ereignis trat bei uns nach der Gabe von Oxycodon p.o. auf.

Verlauf

Unter Maskenbeatmung der bewusstlosen Patientin zeigten sich im EEG deutlich verlangsamte Wellen-formationen als Hinweis einer mittelschweren Allgemeinveränderung (Theta-Rhythmus). Krampfpotentiale waren nicht zu sehen. Dieser Befund änderte sich nicht nach der Gabe von 0,5 g Anexate (Abbildung 1). 60 Sekunden nach der Gabe von 0,4 mg Naloxon normalisierte sich das pathologische EEG nahezu (Abbildung 2) und eine suffiziente Spontanatmung mit einer Atemfrequenz von 14 bis 16 pro Minute setzte ein. Etwa 36 Stunden später war die Patientin wieder vollständig aufgeklart und zu allen Qualitäten voll orientiert.
Nach Verlegung auf die Intensivstation wurden im Sanitärbereich des Krankenzimmers der Patientin leere Medikamentenpackungen (Oxycdon und Tranxilium) gefunden. Später räumte sie ein, auf der Station zum Zwecke der Schmerzlinderung zusätzlich Oxycodon eingenommen zu haben.

Abb. 1a

Abb. 1b
Abb. 1: EEG der bewusstlosen Patientin unter Maskenbeatmung: links nach Ankunft im Aufwachraum ohne Medikation, rechts nach der Gabe von 0,5mg Flumazenil. Deutliches Überwiegen eines generalisierten Theta-Grundrhythmus im Sinne einer mittel­gradigen Allgemein­ver­änderung. Keine Veränderung durch den Benzodiazepin-Anta­gonisten.

Die Blutanalyse ergab zum Zeitpunkt des bewusstlosen Auffindens einen Oxycodon-Spiegel von 1.690,0 µg/l. Bei dieser Konzentration muss von einer potentiell letalen Vergiftung ausgegangen werden. In zwei forensischen Arbeiten waren post mortem eine mittlere tödliche Konzentrationen von 1.230 µg/l und 690 µg/l Oxycodon gefunden worden [T, TT]. In dieser Untergruppe an Todesfällen wurde das Versterben ausschließlich auf die Intoxikation mit Oxycodon zurückgeführt. Dabei war die Spannweite der letalen Konzentrationen groß; in einem Fall lag die ermittelte Konzentration bei 120 mg/l Oxycodon und bei 13 von berichteten 24 Todesfälle einer Studie lag die letale Konzentration bei 500 mg/l oder darunter [T]. Es muss dahin gestellt bleiben, ob im vorliegenden Fall der gemessene Wert dem Maximum des Serum-spiegels entspricht. Da die Patientin etwa 12 Stunden nach der Intoxikation tablettenhaltigen Mageninhalt erbrochen hatte, erscheint ein höherer Spitzenspiegel bei gegebener initialer Aufnahme zumindest möglich. Erst später fiel auf, dass das Drogen-Screening bei Aufnahme trotz der Dauermedikation mit Oxycodon auch auf Opiate negativ gewesen war. In einer nachträgliche Untersuchung der routinemäßig konservierten Urinprobe vom 3. stationären Tag mittels Gaschromatographie/Massenspektrometrie wurden Spuren von Oxycodon nachgewiesen. Tranxilium konnte in Urin, Venenblut und Magensaft nicht nachgewiesen werden.

Abb. 2a

Abb. 2b

Abb. 2: EEG der Patientin unter Maskenbeatmung links 20 Sekunden und rechts 60 Sekunden nach der intravenösen Gabe von 0,4 mg Naloxon. Nach 20 Sekunden Befund einer leichten Allgemeinveränderung, nach 60 Sekunden allenfalls nur noch grenzwertiger Befund einer leichten Allgemeinveränderung mit einzelnen Bewegungsartefakten.

Uns ist kein genetischer Polymorphismus bekannt, der eine Unverträglichkeit gegen alle Medikamente erklären kann, die im geschilderten Krankheitsverlauf zu einer Bewusstlosigkeit geführt haben. Neben pharmakodynamischen Effekten müssten große pharmakokinetische Veränderungen vorgelegen haben. Es ist beispielsweise bekannt, dass Patienten mit CYP450 2D6 Genotyp eines „extensive metabolizers“ eine wesentlich geringere Toleranz gegenüber Codein haben. Ein ähnlicher Mechanismus ist für Oxycodon bislang nicht gezeigt worden.

Nachdem die Selbstschädigung offensichtlich war, ließ sich nicht mehr eindeutig eruieren, wie viele Tabletten die Patientin zu sich genommen hatte. In der Literatur wird angegeben, dass die Plasmakonzentration nach Einnahme von 20mg Oxycodon retard im Mittel etwa 20ng/ml entspricht. Da die interindividuelle Variabilität der erreichten Plasmaspiegel hoch ist, kann der Wert nur ein Anhalt sein. Der bei unserer Patientin gemessene Spiegel entspricht mit der genannten Einschränkung und unter der Annahme einer linearen Beziehung etwa der Einnahme von 80 Tabletten Oxycodon retard 20mg. Durch Mörsern (Zerkauen) kann die maximal erreichbare Plasmakonzentration nach Angabe des Herstellers etwa um den Faktor 2 gesteigert werden.

Wir halten die im Vorfeld gestellte Diagnose der medikamentenabhängigen pathologischen Reaktion des aufsteigenden retikulären aktivierenden Systems der Formatio reticularis im Sinne einer Überempfindlichkeit für nicht nachvollziehbar, insbesondere auf Grund der Vielzahl unterschiedlich wirkender Substanzen. Die Formatio reticularis ist die anatomische Grundlage des für die Vigilanzkontrolle bedeutsamen aufsteigenden retikulären aktivierenden Systems (ARAS). Störungen in diesem Bereich, welcher Ursache auch immer, führen zu Bewusstlosigkeit und gravierenden EEG-Veränderungen. Wir sehen daher die aufgetretenen Ateminsuffizienzen bei der Patientin als eine physiologische Reaktion des ARAS bei lebensbedrohlicher Oxycodon-Intoxikationen an. Hierfür spricht auch die nahezu sofortige Normalisierung des EEG nach Gabe des Naloxon i.v., welches beweisend ist für eine schwere, reversible pharmakologisch induzierte Hirnfunktionsstörung.

Nach diesem Ereignis konnten wir die Patientin nicht für eine weitere Behandlung bei uns gewinnen. Die Anerkennung eines selbstschädigenden Verhaltens war der Patientin nicht möglich und sie verließ unser Krankenhaus kurze Zeit später auf eigenen Wunsch. Der Hintergrund der vorliegenden artifiziellen Störung bleibt daher offen; genauso wie die Frage, ob eine bewusstseinsnahe oder –ferne Störung vorlag. Der psychiatrische Konsiliarius sah keinen Grund für die Annahme einer akuten Suizidalität.

Fazit

Artifizielle Störungen sind im klinischen Alltag aller Fachgebiete gegenwärtig und stellen eine Bedrohung für die betroffenen Patienten dar. Im Bereich der Schmerztherapie ist Medikamentenfehlgebrauch eine wichtige Differentialdiagnose, die durch Medikamentennachweis und Spiegelbestimmungen gesichert werden kann. Dabei sprechen eine ungewöhnliche Latenz zwischen Einnahme und Wirkung sowie extrem erhöhte Serumkonzentrationen gegen einen Genpolymorphismus als Ursache unklarer Symptome.

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