Das Leben und das Leben an sich.

Freitag morgen ging schon schlecht los. Ich musste noch drei Patienten entlassen und wusste, ich würde den Tag im OP verbringen (der geliebte Freitags-Whipple), also hieß die Devise: Blitz-Visite und vor der Frühbesprechung noch schnell die Tags zuvor diktierten Briefe korrigieren, ausdrucken und bereit legen. Also schnell über die Station gerannt, überall reingeschaut, hallo gesagt, Kurven kann man ja später vollkrakeln (im Ernst, wer dieses Geschmiere lesen kann….?!) und ab an den Computer. Was ist? Keine Briefe. Gerade, als ich anfangen will, mich darüber aufzuregen, dass die in meinen Überstunden diktierten Briefe noch nicht geschrieben sind und ich diese Zeit also besser im Eiscafé hätte verbringen können, höre ich auf dem Flur eine Schwester panisch nach der anderen rufen.

Irgendetwas in ihrer Stimme stimmt nicht, und einer unbestimmten Ahnung folgend laufe auch ich in die Richtung. Tatsächlich. Eine Patientin, die vor einer Viertelstunde noch ihrer Erkrankung entsprechend relativ fidel guten Morgen sagte, liegt mit verdrehten Augen nicht ansprechbar in ihrem Bett. Noch bevor ich die Finger an ihrem Hals habe, weiss ich, dass ich keinen Carotispuls tasten werde. Und auch keinen Femoralispuls in der Leiste. Wir reanimieren. Wir intubieren. Am Monitor hat sie ein Kammerflimmern. Wir schocken. Daraufhin wird sie asystol. Wir pacen von extern ihren Schrittmacher, trotzdem keine Herzaktion. Dafür maximal gestaute Halsvenen. Sicherlich eine halbe Stunde lang übernehme ich die Arbeit ihres streikenden Herzens, den Platz am Kopfende habe ich relativ dankbar an den Intensiv-Arzt vom Rea-Team übergeben, der mit Supra und Amiodaron jongliert und tut was er kann. Zwischenzeitlich hätte ich den Sauerstoff gerne für mich, mir wird klar, wie wenig Sport ich die letzten Wochen über gemacht habe, obwohl wir uns zu zweit beim Drücken ablösen, ist es unfassbar anstrengend. Und unfassbar sinnlos. Keine Chance. Das Herz der Patientin will nicht. Immer wieder Nulllinie. Wir beschließen, die Maßnahmen abzubrechen. Die Dame ist alt und ein gefäßchirurgisches Wrack, sie wird einen erneuten Herzinfarkt gehabt haben oder eine massive Lungenembolie. Trotzdem ist es ein fürchterliches Gefühl, als das ganze Reanimations-Gewusel stoppt und wir schwitzend, schwer atmend (also ich, zumindest) und mit hängenden Armen neben dieser Frau stehen, die mit Tubus im Hals, aufgeschnittenem Nachthemd, Schock-Paddles auf der Brust und der Supra-Spritze an der Viggo in ihrem Bett liegt. Plötzlich ist es ganz still im Raum.

Dann macht der Defibrillator seine Alle-zwei-Minuten-Rhythmusanalyse, und -ironisch aber wahr- zeigt einen Kammer-Ersatzrhythmus. Kurz schauen wir uns alle etwas verwirrt an, dann geht der Tanz wieder los. Stabilisieren und ab auf Intensiv mit der Dame, deren Herz es sich doch noch einmal anders überlegt hat.

Etwas derangiert schlurfe ich Minuten später von der Intensivstation zur Frühbesprechung, lasse mich anmaulen, weil ich viel zu spät bin, und verbringe den restlichen Tag am Haken im OP. Zwischendurch ruft der Intensivarzt an und sagt, dass Frau F. dann doch verstorben sei. Mist.

Irgendwann Nachmittags verlasse ich den OP und widme mich der liegengebliebenen Stationsarbeit. Eine Patientin war schon die ganze Woche über nicht so gut dran postoperativ, und nun haben sich in der Nacht sowohl die Leukos als auch ihr CRP verdoppelt,  und sie bekommt Fieber bis 40 Grad. Mein letzter Akt vor dem Wochenende ist also, sie auf die Überwachungsstation zu verlegen, da mir gar nicht wohl dabei ist, sie übers Wochenende in ihrem Einzelzimmer zu lassen.

Es ist so spät, als ich die Klinik verlasse, dass es sich gar nicht mehr lohnt, nach Hause zu fahren, also springe ich direkt hinein in die Wochenend-Action, welche  beginnt mit einem Konzert meiner Lieblings-Ska-Band, auf das ich mich schon seit Monaten gefreut habe.

Und während ich da so in der Menge mitspringe und in die Gesichter meiner selig mitgrölenden und hüpfenden Peer-Group sehe, merke ich, dass ich Muskelkater habe vom Reanimieren. Und ich lasse den Tag Revue passieren und fühle mich so seltsam entkoppelt. Wie kann es denn sein, dass wir ein glückliches Konzert feiern und meine Patienten kein Wochenende haben, sondern weiter um ihr Leben kämpfen? Es fällt mir schwer, die Klinik Klinik sein zu lassen und in mein echtes Leben einzutauchen. Was ist eigentlich mein echtes Leben? Was würden meine Patienten sagen, wenn sie ihre Frau Doktor mit dem fünften Bier in der Hand und wirren Haaren in der ersten Reihe vor der Bühne hüpfen sähen?

Ich betrinke mich.

Seit ich – relativ verkatert – wieder aufgewacht bin, habe ich das Bedürfnis, in der Klinik anzurufen und zu fragen, wie es auf der Station so läuft und wie es der Patientin geht, die ich verlegt habe. Ich muss mich regelrecht zwingen, das nicht zu tun (wie, wenn man den Kerl nach dem ersten Date anrufen will, aber weiß, dass es besser ist wenn er es tut). Ich möchte trotzdem mein wildes Leben leben und unbesorgt und blauäugig sein, auch wenn ich in der Klinik eine andere sein muss. Oder einen anderen Teil von mir rauskehren muss. Ich werde weiter die Balance suchen.

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