Mai 2009
Die Blutentnahme
Hausarzt Dr. med. Anselm Kunze betrat das Sprechzimmer. Vor seinem Schreibtisch saß Herr Brockmann und wartete. Auf dem Schreibtisch stand ein Tablett mit verschiedenen Röhrchen. Der Patient war also wegen einer Blutentnahme da. Im Falle von Herrn Brockmann war das keine einfache Angelegenheit.
Der Patient litt unter Rheuma im fortgeschrittenen Stadium mit entsprechend starker Medikation. Seine Blutwerte mussten spätestens alle vier Wochen kontrolliert werden, damit Nebenwirkungen der Medikamente auf Blutbild und Leber sofort erkannt wurden.
Patient Brockmann war von Natur aus nicht mit markanten Armvenen ausgestattet, aber jetzt nach Jahren wiederholter Blutanalysen, Infusionen und Injektionen war er zum so genannten Koryphäenkiller geworden, was Venenpunktionen betraf: Selbst die versierteste Krankenschwester und der erfahrenste Arzt verzweifelten an Herrn Brockmanns Adern. Und der Patient litt. Manchmal wurde er vier oder fünf Mal gestochen und trotzdem war kein Tropfen Blut gewonnen. Am Ende bedeutete das für den armen Herrn Brockmann, er musste sich auf die Liege begeben und eine Leistenvenenpunktion über sich ergehen lassen.
Aber Hausarzt Dr. Kunze ließ sich nicht beirren. Er legte den Stauschlauch an den rechten Oberarm, zog ihn gerade so fest zu, dass zwar Blut in den Arm strömen konnte, aber der Abfluss über die Venen behindert war. Er bat den Patienten die Faust zu öffnen und zu schließen.
„Das hat doch keinen Zweck. Ich kann mich doch gleich dahinlegen.“
Herr Brockmann wies auf die Untersuchungsliege.
„Nicht so pessimistisch, Herr Brockmann. Erlauben Sie mir doch noch einen Versuch am Arm.“
Also streckte der Patient seinen Arm hin, blickte genervt aus dem Fenster, während sein Hausarzt auf der Suche nach einer Vene die Ellenbeuge betastete. Hausarzt Dr. Kunze war ein erfahrener Arzt. Ramponierte Venen erholten sich oder neue wuchsen nach. In einem Fall wie beim Patienten Brockmann konnte es passieren, dass ein Jahr oder länger niemand einen Versuch an der typischen Stelle startete, nur weil es hieß, Patient Brockmann habe katastrophale Venen.
Und tatsächlich. Dr. Kunze sah nichts, was einer punktionswürdigen Vene ähnelte, aber er tastete das typische weiche Polster einer blutgefüllten Ader direkt neben der Bizepssehne. Er nahm die Punktionsnadel und stach ohne große Vorrede zu. Das Vakuum im Laborgefäß sorgte für den Blutstrom.
„Na, wer sagt es denn. Immer positiv denken.“
Als das Plastikröhrchen sich gefüllt hatte, zog Dr. Kunze die Nadel zurück, während er gleichzeitig einen Tupfer auf die Punktionsstelle drückte.
„Geschafft!“ sagte der Arzt und forderte Herrn Brockmann auf, den Druck auf den Wattetupfer selbst zu übernehmen.
„Schön fest drücken, bis Sie aus der Praxis sind und um die Ecke den Bäcker erreicht haben.“
Der Hausarzt gab gern genaue Anweisung, weil er wusste, dass kein Patient die Geduld aufbrachte zwei oder drei Minuten auf die Punktionsstelle zu drücken. Zwei bis drei Minuten waren unendlich lang und endeten für die meisten Patienten nach zwanzig Sekunden. Diese kurze Zeit reichte manchmal nicht für einen sicheren Verschluss der kleinen Stichwunde, Blut quoll dann aus dem Arm, beschmutzte die Kleidung des Patienten und den Fußboden der Praxis. Seltsamerweise lag die Schuld immer bei demjenigen, der das Blut abgenommen hatte, jedenfalls wenn es nach der Meinung der Patienten ging. Aber das war nicht das Schlimmste. Unzureichende Kompression konnte hässliche Blutergüsse auslösen. Verantwortlich war selbstverständlich wieder das medizinische Personal oder der Arzt. Noch ärgerlicher für alle Beteiligten war, dass so ein Hämatom die Ader so verletzten konnte, dass für eine Weile die Blutentnahme an dieser Stelle nicht mehr möglich war. Im Fall von Patient Brockmann war dies besonders verdrießlich.
„Woher wissen Sie, dass ich zum Bäcker will?“
„Ein Hausarzt weiß alles“, lächelte Dr. Kunze. Er war gern ein alter Fuchs, er war nur nicht gern zu alt.
„Also, bis dann, wir telefonieren morgen Mittag wegen der Ergebnisse. Und immer schön drücken.“
Dr. Kunze schob den Patienten aus der Tür, dann fütterte er die elektronische Karteikarte mit einem Eintrag, rechnete seine Leistung ab und schlug die Warteliste auf: Frau Pfaff zum Wiegen, Herr im Himmel, waren schon wieder zwei Wochen um? Zwei weitere Wochen mit Mahlzeiten wie ein Spatz, wenn man überhaupt von Mahlzeiten reden konnte und trotzdem zwei, drei Pfund mehr Gewicht. Einfach unerklärbar war das. Wenn der Doktor wüsste, was sie den Tag über aß, würde Frau Pfaff betonen. Aber der Hausarzt wollte es am liebsten nicht wissen, jedenfalls nicht das, was Frau Pfaff zugab.
Laute Stimmen auf dem Flur rissen ihn aus seinen Gedanken. Er hörte Brockmanns Stimme und wusste, was geschehen war. Um sich zu vergewissern, verließ er sein Sprechzimmer und betrat den Flur. Eine Blutspur vom Praxiseingang bis zum Verbandsraum. Dr. Kunze sah auf die Uhr. Keine Dreiviertelminute war vergangen, seit er Herrn Brockmann verabschiedet hatte. Bis zum Bäcker waren es fünf Minuten, wenn man schnell ging.
Im Verbandsraum hörte der Hausarzt seinen Patienten meckern:
“Der alte Kunze beherrscht das Blutabnehmen auch nicht mehr so wie früher. Das gibt wieder einen dicken Bluterguss. Als ob man nicht schon genug Ärger hätte.“
Der Hausarzt schluckte, aber er gab sich nicht zu erkennen. Er drehte um und ging in die andere Richtung. Der Tag hatte eben erst begonnen und Allgemeinmediziner Dr. med. Anselm Kunze fühlte sich müde.