Der folgende Text von Prof. Dr. med. Füeßl erklärt die Motivation zur Veröffentlichung der kleinen Artikelreihe über “Zecken, Borrelien, FSME und Co.” besser, als es Der andere Hausarzt hätte ausdrücken können. Weder der Verfasser des untenstehenden Textes (da bin ich sicher), noch der Autor dieses Blogs (das weiß ich) wollen an Borreliose erkrankte Personen beleidigen oder geringschätzen. Es geht lediglich um eine unschöne Tendenz in der Medizin, die nicht nur das Thema Zecken betrifft. Diese Tendenz ist im unten zitierten Artikel hinreichend erklärt.
Nebenbei bemerkt: Der Zugang einer Zecke über die Haut zum Blut oder zur Lymphe ihres Opfers ist ein Ritzen oder Beißen mit anschließendem Saugen durch einen Stechapparat. So spricht man also wissenschaftlich von einem Zeckenstich. Diese Veränderung in der Nomenklatur hat der Autor dieses Blogs tatsächlich übersehen. Die süffisante Bemerkung dazu im Vorartikel war unnötig und wurde nachträglich gestrichen.
Aus einem Artikel in der Zeitschrift MMW (Münchner Medizinische Wochenschrift) Fortschritte der Medizin Heft 22/2009 von Prof. Dr. H.S. Füeßl (Facharzt für Labormedizin)
„Was man nicht erklären kann, sieht man gern als Borreliose an“
Im Folgenden der komplette Schluss-Kommentar von Prof. Füeßl als Abschrift:
„Borreliose als Büchse der Pandora, Antibiotika als Panazee [Allheilmittel]“
Als kritisch denkender Arzt mag man manchmal verzweifeln, doch ist die Borreliose in vielerlei Hinsicht fast so notwendig wie das Böse in der Welt, ohne das es das Gute nicht gäbe. Viele Patienten sind geradezu dankbar, wenn ihnen ein Arzt die Diagnose einer Borreliose bescheinigt, selbst wenn sie nach wissenschaftlichen Kriterien gar nicht vorhanden sein kann. Millionen von Patienten mit Befindensstörungen, die sich mit der Frage quälen, woher ihre Beschwerden kommen, wird ein positives und sozial akzeptiertes Modell angeboten. Die Akquisition der Krankheit erfolgt im Rahmen akzeptierter gesundheitserhaltender Maßnahmen wie Wandern, Aufenthalt im Wald und an der frischen Luft. Zudem hat die Zecke ein archaisches Stigma des Unheimlichen und Heimtückischen und wirkt insbesondere auf rasterelektronischen Aufnahmen als ausgenommen abstoßend. Dem Kranken wird durch die antibiotische Behandlung eine plausible Hoffnung auf Heilung angeboten.
Auch für den Arzt birgt das Borreliosekonstrukt manche Vorteile. Es schafft lang anhaltende Abhängigkeiten eines vordergründig dankbaren Patienten. Die Diagnostik beinhaltet umfangreiche Laboruntersuchungen, die von interessierter Seite durch wissenschaftlich sinnlose Maßnahmen wie z.B. den Lymphozyten-Transformationstest noch erweitert werden. Die vielfältige Symptomatik der Lyme-Borreliose lässt bei nicht erfolgter Besserung durch Antibiotika auch Raum für zahlreiche alternative Therapieansätze wie die Gabe von Vitaminen, Spurenelementen und Nahrungsergänzungsmitteln.
Geschäfte mit der Angst
Diese Gemengelage ließ die Lyme-Borreliose zum Betätigungsfeld von Alternativmedizinern, Lyme-Gurus und obskuren Borreliosezentren werden, die in inniger Verflechtung mit Selbsthilfegruppen ein vordergründig humanitäres, tatsächlich aber kommerziell getriebenes System unterhalten. In dieser Hinsicht steht die Lymeerkrankung in einer Reihe mit der Fibromyalgie, dem chronischen Müdigkeitssyndrom und der multiplen chemischen Sensitivität. Sie darf aber noch das „Sahnehäubchen“ einer durch Zecken übertragenen Infektionskrankheit für sich reklamieren.
Auf der einen Seite stehen Millionen von Patienten mit medizinisch nicht erklärten Symptomen, die oft verzweifelt nach einer Ursache für ihre Beschwerden suchen. Auf der anderen Seite stehen manchmal nicht gut informierte Ärzte, welche sich in dem durchaus komplexen Gebiet der Infektionsserologie nicht zurechtfinden können oder wollen. Und schließlich gibt es in dem Spiel auch noch die großen Vereinfacher, die für alles eine Erklärung haben und sich allein im Besitz der Wahrheit glauben. Teils aus inbrünstiger bis fast fanatischer Überzeugung, häufig aber auch aus schierem Gewinnstreben nutzen sie die Ängste der Betroffenen, um dauerhafte Abhängigkeit zu schaffen. Ich fürchte, dass auch mit diesem Report die Diskussion um das richtige Vorgehen bei Diagnostik und Therapie der Lyme-Borreliose nicht beendet sein wird.
Prof. Dr. H. S. Füeßl
Der komplette Artikel ist hier nachlesbar.