Dr. Kunze hört (nicht) auf 14

August 2009
Hausarzt Dr. Kunze ganz privat
Mitleidend betrachtete Hausarzt Dr. med. Anselm Kunze seine Frau. Versonnen streichelte er ihr über die blau verfärbten Zehen. Dann, als wollte er sich selbst aus einer Trance wecken, klopfte er ihr vorsichtig auf den Gipsverband und sagte:
„Das wird schon wieder. Sei froh, dass es der vierte Mittelfußknochen ist und nicht der fünfte. Das wäre schlimmer, und es würde länger dauern, bis du den Fuß wieder belasten könntest.“
„Tröstest du so deine Patienten auch? – ‚Das wird schon wieder!’ Oder hast du noch eine andere Empfehlung? Vielleicht etwas Medizinisches? Vielleicht etwas gegen die Schmerzen?“
Frau Kunze war zuletzt etwas ungnädig. Sie war vier Tage zuvor die Kellertreppe hinuntergestürzt. Der Unfall war erstaunlich glimpflich verlaufen, bis eben auf den vierten Mittelfußknochen links, der war gebrochen. Der Bruch stand gut, trotzdem brauchte der Fuß Schonung. Ruhe und Geduld waren aber nicht gerade die Stärken seiner Gattin.
Anselm  Kunze brach eine Fertigspritze aus der Verpackung, zog den Gummipfropfen von der Kanüle und hielt die Spritze gegen das Licht.
„Doch, doch. Ich empfehle meinen Patienten eine Vorsorge gegen Thrombose. Schieb‘ bitte mal deinen Pullover und dein Unterhemd hoch.“
Die Frau des Hausarztes tat dies widerwillig und stöhnte kurz auf, als ihr Mann routiniert die Injektion in die Bauchhaut setzte.
„So, das hätten wir. Siehst du, war doch gar nicht schlimm.“
„Für dich nicht.“
Anselm Kunze widersprach nicht und erwähnte auch nicht, dass er jetzt gern an der Stelle seiner Frau sein würde. Liegen müssen, nichts tun dürfen, ein gutes Buch zur Hand nehmen, umsorgt werden, das würde er sich wünschen. Aber so etwas durfte er nicht einmal im Scherz erwähnen. Seine Frau war ein Unruhegeist, der erzwungene Untätigkeit hasste. Also betupfte er die Einstichstelle, verzichtete auf ein Pflaster und brachte die leere Spritze in die Küche.
„Der Müll muss unbedingt noch in die Tonne. Morgen kommt die Müllabfuhr.“
Freitags? Seit wann kam die Müllabfuhr freitags? Kam die nicht immer dienstags? Noch bevor er sich selbst Einhalt gebieten konnte, war die Frage gestellt. Ein Fehler.
„Da kannst du mal sehen, wie wenig du dich um solche Sachen kümmerst. Dienstags, dass ich nicht lache! Das ist Jahre her! Außerdem haben wir einen Abfuhrkalender. Aber der Herr weiß das natürlich nicht! Woher auch? Bringt ja auch nie die Tonne an die Straße. Apropos: Es reicht natürlich nicht, den Abfall aus der Küche in die Tonne zu stecken, die Tonne gehört auch an die Straße. Außerdem würde ich dir raten, heute schon für das Wochenende einzukaufen, morgen und samstags ist es immer so voll.“
Ans Einkaufen hatte er noch gar nicht gedacht. Aber Recht hatte sie. Er konnte ja wohl schlecht seine Frau loshumpeln lassen. Seinen pünktlichen Feierabend hatte er sich anders vorgestellt. Einkaufen war nicht gerade seine Lieblingsbeschäftigung und das wusste seine Frau. Außerdem konnte sie seine Gedanken lesen.
„Nächste Woche erledigt das Frau Suhrmann. Aber diese Woche hat sie noch keine Zeit. Einmal wirst du das doch wohl überstehen.“
Anselm Kunze holte sich einen Zettel. Nicht, dass das unbedingt notwendig war, die meisten Dinge hätte er auch so nicht vergessen, seit er mittels Gedächtnistraining ein paar Tricks gelernt hatte. Aber hier und heute kam es nicht auf die meisten Dinge an, sondern auf alle. Ihm stand nicht der Sinn nach einem Streit um vergessene Butter oder vergessenen Senf.
„Was brauchen wir denn?“
Wieder war die Frage schneller draußen, als ihm lieb war. Aber es war zu spät.
„Vielleicht hilft ein Blick in die Küche, insbesondere in den Kühlschrank. Um alles muss man sich alleine kümmern.“
Der gescholtene Hausarzt und Ehemann sparte sich den Kommentar, dass er sich um die ärztliche Führung seiner Patienten auch alleine kümmerte, in der Praxis gab es ja keine Alternative. Außerdem war es müßig, in diesem Augenblick über Aufgabenverteilung zu diskutieren.
„Und denk‘ dran, dass nachher dein Sohn kommt und übers Wochenende bleibt. Da brauchen wir entsprechend mehr.“
Dein Sohn. Wenn seine Frau so redete, war sie wirklich übler Laune. Schade, dass nicht Karin, ihre Tochter, zu Besuch kam. Die hätte ihm den Einkauf bestimmt abgenommen. Aber Karin war in England und würde sie frühestens in zwei Wochen besuchen.
Dr. Kunze öffnete den Kühlschrank und blickte auf eine Weise hinein, als müsste er ein Rätsel lösen, um an die entscheidende Information zu kommen. Er riss sich zusammen. Butter war da, Milch war da, Käse auch, vielleicht fehlten ein paar Joghurts und ein bisschen Wurst. Er würde einfach losfahren und sich im Supermarkt inspirieren lassen.
Aber da hatte er sich getäuscht. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, reichte ihm seine Frau einen Zettel.
„Wir brauchen Brot, Joghurt und Wurst. Butter, Milch und Käse reichen auch nicht.“
Er kam sich vor wie ein Kind. Aber er wusste sich zu wehren.
„Du sollst den Fuß hochlegen. Wenn er so hängt, schwillt er noch mehr an. Und nicht auftreten, hörst du?“
„Ja, ja, schon gut. Ich bin nicht deine Patientin.“
„So? Wessen denn?“
„In allererster Linie bin ich deine Frau. Und jetzt beeil dich, der Metzger macht um sechs zu, die Bäckerei um sieben. Der Supermarkt  hat länger auf.“
Ach, herrje. Nicht ein Geschäft, sondern drei sollte er aufsuchen. Das wurde ja lustig. Dr. med. Anselm Kunze fragte sich langsam, ob es eine gute Idee war, für den nächsten Tag aus Rücksichtnahme auf seine Frau die Nachmittagssprechstunde zu streichen. Sein Leben war in der Praxis im Moment sicher einfacher als zu Hause. Die Arzthelferinnen hörten auf seine Anweisungen, meistens jedenfalls. Die Patienten waren ihm ergeben, die meisten jedenfalls. Und was er sagte, wurde gemacht, so nahm er zumindest an.

Als Dr. Kunze nach knapp zwei Stunden erschöpft vom Einkauf zurückkehrte, war sein Sohn bereits eingetroffen. Der Vater freute sich, gerade weil er wusste, wie schwer es für Michael war, sich in der Firma loszueisen. Anselm Kunze hatte zwar nicht ganz verstanden, was sein Sohn genau tat, aber es war irgendein verantwortungsvoller Job im Softwarebereich der Firma.
Sie unterhielten sich eine Weile zu dritt, und Michael erzählte, dass es Corinna zurzeit nicht besonders gut gehe. Die Schwiegertochter hatte ein Schilddrüsenproblem und der Vater bot dem Sohn an, sich darum zu kümmern.
„Danke, Papa. Aber Corinna ist bei einem Spezialisten.“
Michael meinte es sicher nicht böse und war sich dessen nicht bewusst, was er gesagt hatte. Er plauderte auch schon weiter ungezwungen mit seiner Mutter, aber Anselm Kunze hatte einen kleinen Stich verspürt. Lag es an seinem Alter, dass sein Rat nicht erwünscht war, dass er jetzt erst von vollendeten Tatsachen hörte? Seine Schwiegertochter war krank, und er, der Schwiegervater, wusste nichts davon. Sie war zu einem Spezialisten gegangen und der behandelte sie jetzt. Der Arzt „im eigenen Hause“ war nicht mehr gefragt.
Das Telefon riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Karin war am Apparat. Sie wollte hören, wie es ihrer Mutter ging. Außerdem hatte sie eine Überraschung auf Lager.
„Mutti, stell‘ den Apparat mal auf laut, dass alle mithören können.“
Nach einer Kunstpause fuhr Karin fort.
„Ich wollte es euch eigentlich persönlich sagen, aber meine Zeit hier in England verlängert sich noch um ein paar Wochen.“
Anselm Kunze spürte einen Stich in der Magengrube. Jetzt kommt’s, dachte er. Apropos Alter, dachte er.
„Ihr werdet Großeltern! In einem halben Jahr ist es soweit.“
Die Freude war groß. Alle redeten durcheinander. Auch Anselm Kunze freute sich – aufrichtig. Aber das Ganze hatte auch etwas von Abschied. Er unterdrückte die Idee, Karin eine Sonder-Ultraschalluntersuchung in seiner Praxis anzubieten. Er fürchtete die Abfuhr, weil der „Spezialist“ sie schon untersucht hatte. So war das Leben.
Das Telefonat wurde beendet und Michael trug sein Gepäck in sein altes Zimmer.
„Anselm, wärst du so lieb und holst mir ein Kissen für mein Bein?“
Seine Frau sah ihn liebevoll an, strich ihm über die Wange, zog ihn zu sich hinab und küsste ihn auf den Mund.
„Du Armer.“
Er sah sie überrascht an und wollte eben fragen, was sie meinte. Aber dann verstand er auch so, dass sie die ganze Zeit über in seinen Gedanken las wie in einem offenen Buch.

In der nächsten Ausgabe von Dr. Kunze hört (nicht) auf  erfährt der Leser, warum der Einkauf den Hausarzt so erschöpft hat.

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