Das Leben vor dem Physikum ist anders als das Leben, das ich sonst lebe. Ich befinde mich in einem Lern-Vakuum und meine vertraute Welt wird von Tag zu Tag mysteriöser. Erst heute habe ich meine Brille, welche ich seit Stunden vermisst hatte, im Kühlschrank neben den Joghurts entdeckt. Und gestern hat sich am hellichten Tage mein voller Einkaufswagen im Supermarkt entmaterialisiert.
Einfach so. Im Gegenzug dafür ist mir jedoch wieder eingefallen, dass es der Nervus auriculotemporalis ist, der eine Schlinge um die Arteria meningea media bildet. Und wenn ich zwischen Wohnung und Lesesaal pendle, dringt in regelmäßigen Abständen der Ruf fremder Menschen an mein Ohr: “Hallo, ist das nicht Ihr Rucksack?”
Nur auf die kurz bemessene tägliche Mittagspause ist Verlass. Dann bewege ich mich mit anderen Leidensgenossen aus dem Lesesaal Richtung Mensa und wir fachsimpeln über physiologische Spitzfindigkeiten und tauschen unsere Erfahrungen aus. Wer kreuzt wie viel Prozent in welchem Fach und wie schafft man es, konzentriert zu lernen, wenn die kleine Motivation mal wieder abtrünnig ist?
Lisa zum Beispiel kreuzt keine Physikfragen mehr. Sie ist sicher, in denselben die Ursache für ihre neuerlichen Pickel zu finden. Flori nervt seine WG, denn er schaut schon zum Frühstück seine Lieblingssoap, damit er wenigstens einmal am Tag etwas zu Lachen hat. Kathrin hingegen beschriftet 8 Stunden am Tag Karteikarten, die sie dann in hübsche Schachteln packt und wegsortiert. Ich bin eher der Mind-Map-Typ. Ich male und beschrifte bunte Strukturbäume, deren Inhalt ich dann auch wieder vergesse.
Und mindestens einmal am Tag ist es soweit. Dann sitzt einer von uns in diesem düsteren Loch, welches kein einziger Hoffnungsschimmer erhellt. So wollte Max heute ans LPA schreiben, dass er nicht am Physikum teilnähme. Er wolle fortan nur noch Lotto spielen. Da seien seine Gewinnchancen nämlich um ein Vielfaches höher als beim Physikum.
So kreisen ständig zwei Fragen über uns: Wie soll ich das nur alles schaffen und warum tue ich das alles? Die Antworten sind einfach: Wir schaffen es, indem wir unbeirrt weitermachen. Und das tun wir für unser Ziel: die Klinik und die Medizin. Außerdem munkelt man in eingeweihten Kreisen, dass es ein Leben nach dem Physikum gäbe.
Marita (Via medici-Lokalredakteurin aus Freiburg)