Sie müssen röntgen, röntgen, röntgen!

Bad Dingenskirchen, morgens um acht. Frühbesprechung in der Notaufnahme. Kalle hat Dienst gehabt und betet die Erlebnisse der letzten Nacht herunter.
Müde klappt er die Kladde mit den Patientennamen zu.
„Ach ja, Einen habe ich noch vergessen: Fünfundzwanzigjähriger Junge, Zustand nach mehreren Weizenbier, ist nachts um drei auf dem Heimweg von der Party mit dem Fuß umgeknickt. War alles in Ordnung. Habe ich heimgeschickt. Vielen Dank, das war’s“
Er gähnt.
Dr. Biestig, der chirurgische Oberarzt schaut ihn scharf an.
„Wo ist denn das Röntgenbild?“
„Gibts nicht.“
Biestigs Miene verdüstert sich.
„Gibts nicht?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil ich ihn nicht habe röntgen lassen.“
Biestigs Gesicht nimmt eine gefährliche Färbung an. Er ist berühmt für seine cholerischen Ausbrüche. Wir alle treten instinktiv einen Schritt zurück. Nur Kalle nicht.
„Was soll das heißen?“
„Wissen Sie, Herr Oberarzt, wenn man mich nachts um drei aus dem Bett klingelt weil ein Patient wartet, dann ist das normal. Aber man muss nicht unbedingt die Röntgen-MTA aus dem Bett werfen, wenn es nicht notwendig ist. Ich habe sie halt schlafen lassen. Ich habe dem Jungen einen Salbenverband gemacht und ihn mit den üblichen Ratschlägen nach Hause geschickt.“
„Warum haben Sie ihn nicht geröntgt?“
„Weil es nicht notwendig war.“
„Bei uns wird immer geröntgt!“
„Herr Oberarzt, was Sie mit Ihren Patienten machen, ist Ihre Sache. Ich bin nur ein dummer Internist…“
„Jawoll, Sie sind Internist! Wie können Sie entscheiden, ob der Fuß nicht gebrochen war? Was ist mit der Diagnostischen Sicherheit?“
„Indem ich den Patienten sorgfältig untersuche. Der Patient ist mit dem Fuß nach innen umgekickt. Also ein leichtes Suppinationstrauma. Keine Schwellung, kein Hämatom, kein Druckschmerz über dem Knöchel. Herr Oberarzt, Sie sind der Fachmann: Sie kennen die Ottawa-Regeln. Die wurden von internationalen Experten aufgestellt, um Patienten vor unnötigen Röntgenaufnahmen und unnötiger Strahlenbelastung zu schützen…“
„Und wenn es doch gebrochen war?“
„Ich habe ihm gesagt, dass er wiederkommen soll, wenn die Schmerzen schlimmer oder in den nächsten Tagen nicht besser werden…“
„Trotzdem: Wenn Sie eine Fraktur übersehen haben, sind Sie dran!“
„Nicht, wenn ich mich an international anerkannte Leitlinien halten und die sagen…“
„Diese Leitlinien können Sie sich sonstwohin stecken! Bei mir zählt nur das, was ich selber sehe! Bei mir wird jede Sprunggelenksverletzung geröntgt, auch nachts um drei! Sie können nie eine Fraktur ausschliessen, ohne ein Röntgenbild gemacht zu haben…“
„Und was wären die Konsequenzen gewsen? Wären Sie nachts dann um drei rausgekommen um ihn dann auf der Stelle zu operieren? Oder hätten sie bei den milden Beschwerden bis zum Morgen gewartet?“
Biestig wird rot und schüttelt den Kopf.
„Ist ja egal. Ich sage es trotzdem: Sie müssen röntgen, röntgen, röntgen!“

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