Dr. Kunze hört (nicht) auf 15

Der Leser der letzten Kolumne „Dr. Kunze ganz privat“ wird sich erinnern, dass der Hausarzt für einen kleinen Einkaufsauftrag seiner am Fuß verletzten Ehefrau über zwei Stunden benötigte. In der heutigen Geschichte wird – wie angekündigt – der Grund für dieses Schneckentempo nachgereicht.
September 2009
Dr. Kunze kauft ein
Als Dr. Kunze den Käseladen betrat, wäre er am liebsten sofort auf dem Absatz umgekehrt. Ausgerechnet Frau Pfaff. Erst vor wenigen Tagen war die letzte Gewichtskontrolle wiedermal desaströs ausgefallen. Was würde er sich in den nächsten Minuten alles anhören müssen – wenn es Minuten blieben. Der Doktor ahnte es: Der sechzig-prozentige Brie, der für sie abgewogen wurde, war ausschließlich für den Besuch gedacht, den Vollfett-Camembert und den Streichkäse auf Mascarpone-Basis sollte Frau Pfaff gewiss der Nachbarin mitbringen und die anderen fetten Kleinigkeiten waren nicht der Rede wert. Aber bei derlei Kommentaren zum eigenen Einkauf würde es nicht bleiben. Sicher würde Frau Pfaff, nach abgeschlossenem Einkauf, noch dieses und jenes in den Auslagen des Spezialitätenladens zu betrachten haben. Das Warenangebot des kleinen Ladens würde sie in diesem Falle weniger interessieren, eher die Besorgungen des Hausarztes. So ein hausärztlicher Einkauf war doch zu spannend und bot eine wunderbare Neuigkeit für das nächste Kaffeekränzchen! Und ganz bestimmt, da war sich Anselm Kunze sicher, würde Frau Pfaff die Chance nutzen, um die eine oder andere Befindlichkeitsstörung anzusprechen. In so einem heimeligen Geschäft ging das ja ganz ohne Wartezeit.
Nein, Hausarzt Kunze ging nicht gern einkaufen. Und dies war erst der Anfang. Die Metzgerei wartete noch auf ihn, dazu der Supermarkt am Ortsrand.
Die Türglocke läutete. Der Hausarzt sah sich um und hinter ihm betrat Patient Hermann Walter den Laden. Dieser schlug sich seit einigen Monaten mit einem hartnäckigen Husten herum. Genau genommen, so wurde Herr Walter nicht müde zu betonen, hustete er, seit er in der Kunzeschen Praxis über eine halbe Stunde halbnackt auf dem Fahrrad-Ergometer auf den Arzt hatte warten müssen. Der Husten war nicht nur für Herrn Walter lästig. Der Neuankömmling grüßte in die Runde und hüstelte verhalten.
„Nehmen Sie den Herrn Doktor ruhig vor, der hat’s bestimmt eilig. Nicht wahr, Herr Doktor?“
Das war also Frau Pfaffs Taktik, sie ließ ihren Hausarzt einfach vor, obwohl ihr Einkauf so gut wie erledigt sein musste, jedenfalls wenn er die Käsemassen auf der Arbeitsplatte der Verkäuferin richtig deutete. Apropos Verkäuferin: Er war sich sicher, dass er die junge Frau kannte, aber ein Name und eine Geschichte wollte ihm zu dem Gesicht nicht einfallen.
„Also, schön!“ Die Verkäuferin schien wenig begeistert. Sie wusste genau, worum es Frau Pfaff mit ihrer zuvorkommenden Aktion ging. „Herr Doktor, was darf’s sein?“
„Haben Sie noch von diesem würzigen Ziegenkäse, den meine Frau letztens gekauft hat?“
„Aber, Herr Doktor, seit wann siezen Sie mich denn? Ich habe doch schon auf Ihrem Schoß gesessen und Ihnen in die Ohren geschaut, als ich selbst eine Mittelohrentzündung hatte und mich nicht untersuchen lassen wollte. Sie kennen mich von klein auf. Nein, so weit kommt das noch. Ich möchte zeitlebens für Sie die Anni bleiben.“
Dr. Kunze lächelte verlegen und nickte. Wenn er sich erinnert hätte, dass diese junge Dame, die kleine, freche Anni von damals war, hätte er sie bestimmt nicht gesiezt. Duzen-Siezen-Gedächtnis – sein altes Problem. Doch Frau Pfaff ließ ihn nicht weiter seinen Gedanken nachhängen.
„Dieser Ziegenkäse aus Griechenland ist wirklich ein Gedicht. Leider gönne ich ihn mir viel zu selten. Sie wissen ja…“ Sie verstummte vielsagend und legte beide Hände auf ihren Bauch. Sie wirkten verloren auf der enormen Vorwölbung ihrer Strickjacke.
Anselm Kunze nickte beiläufig in die Richtung seiner übergewichtigen Patientin und bestellte vom Kräuterstreichkäse mit Schnittlauch und Zwiebeln, ein vom Inhaber des Käseladens selbst komponiertes Rezept.
„Ein herrlich würziger Käse,“ Frau Pfaff reckte sich verschwörerisch in Richtung Hausarzt-Ohr und flüsterte vernehmlich, „aber leider hat man hinterher immer etwas mit Blähungen zu tun.“
Herr Walter hustete und Anni mahnte die Kundin milde, den Doktor doch in Ruhe seine Einkäufe erledigen zu lassen. Anselm Kunze wünschte noch zehn Scheiben Tilsiter, aber vom pikanten.
„Och, den mochte mein verstorbener Mann auch immer so gern. Und was habe ich immer gesagt? Schatz, iss nicht immer so viel fetten Käse, das schlägt dir aufs Herz. Und was ist passiert? Na, ja, Sie wissen es ja am besten. Der liebe Gott hat ihn viel zu früh zu sich geholt. Herzinfarkt – bums – aus die Maus! Sieben Jahre werden das jetzt schon. Apropos Herz, Herr Doktor, hier habe ich neuerdings immer so ein Stechen.“
Frau Pfaff hob ungeniert ihren gewaltigen linken Busen an und strich über die darunterliegenden Rippen mit der flachen Hand. Die Massen kamen in Schwung. Herr Walter hustete anfallartig und studierte mit plötzlichem Interesse das Gewürzregal.
„Hat das vielleicht mit meinen Krampfadern zu tun? Die ärgern mich in letzter Zeit auch. Sind aber auch schlimm geworden.“
Frau Pfaff hob ihren Rock und wies auf ihre linke Kniekehle. Die dünnen Nylonstrümpfe verdeckten die wulstigen Venen kaum. Angesichts dieses Anblicks erwachte Dr. Kunze zum Leben.
„Warum verschreibe ich Ihnen eigentlich zwei Paar Kompressionsstrumpfhosen pro Jahr, Frau Pfaff, wenn Sie doch in diesen dünnen Dingern rumlaufen? So geht das aber nicht. – Das wär’s.“
„Wie, das wär’s? Wollen Sie mir jetzt keine Strumpfhosen mehr aufschreiben? Ich bin doch nur kurz…“
Frau Pfaff kam nicht weiter.
„Das wär’s heißt, ich möchte keinen weiteren Käse mehr.“ Was mit Käse gemeint war, blieb eine Sekunde lang unklar, dann sagte Dr. Kunze: „Danke Anni, stimmt so. Der Rest ist für die Kaffeekasse.“
Anni hob den Daumen zum Abschied, ob der pfiffigen Doppeldeutigkeit des Doktors, die Frau Pfaff verstummen ließ und Herr Walter lächelte – ohne zu husten.
Bis zum Metzger waren es nur wenige Schritte, vielleicht fünfzig, sechzig Meter durch die kleine Fußgängerzone. Der Hausarzt grüßte in Richtung einer Gruppe Bauarbeiter, die an einem Stehtisch Kaffee tranken.
„Morgen, Herr Doktor! Heute mal höchstpersönlich unterwegs? Ist Ihnen die Frau weggelaufen?“
Fröhliches Gelächter begleitete den Arzt, der mit winkender Hand anzeigte, dass er den Witz keineswegs übelnahm. Die Männer ahnten ja nicht, wie sehr sie danebenlagen. Von weglaufen konnte bei seiner Frau im Moment nicht die Rede sein.
Hechelnder Atem im Nacken riss Dr. Kunze wieder aus seinen Gedanken.
„Ach, Herr Doktor, gut, dass ich Sie treffe! Ich bin so in Not! Die Krankenkasse will mir mein Krankengeld nicht zahlen. Die sagen, der Gutachter hätte gesagt, ich hätte arbeiten können, aber ich konnte doch letzte Woche wirklich noch nicht. Sie haben mich doch auch weiter krankgeschrieben. Erst diese Woche geht es wieder so langsam, aber die ersten Tage haben mich ganz schön erschöpft. Aber keine Angst, ich will lieber durchhalten, als noch mehr Ärger haben mit der Krankenkasse.“
Während die Frau mittleren Alters nach Luft japste, ging sie von drei Voraussetzungen aus:
1. Der Hausarzt wusste, wer sie war.
2. Der Hausarzt hatte ihren persönlichen Fall im Gedächtnis.
3. Der Hausarzt kannte ihre finanziellen Verhältnisse und ahnte, wie sehr sie ohne das ausstehende Krankengeld in Not war.
Dr. Anselm Kunze hörte der Frau im hellblauen Kittel einer Verkäuferin ruhig zu. Aus ihr sprudelten die Sorgen nur so heraus. So viel Zeit musste sein und lange dauerte so ein Sprudeln meist nicht, allenfalls zwei oder drei Minuten. Die wirkten lang und sie ließen einer Menge Sorgen freien Lauf. So ein Redefluss schaffte Erleichterung, und auf diese Weise ging es viel schneller, als wenn man als Arzt versuchte, ihn zu unterbrechen.
Nur was, wenn er am Ende dieses Schwalls fragen müsste: Wie ist ihr Name? Worum geht es? Welche Ernüchterung. Welche Enttäuschung. Wie viel verlorene Hoffnung auf Hilfe! Aber wie sollte er all die Krankengeschichten behalten? Alles in allem genommen hatte er zwischen achtzig bis hundert Patientenkontakte pro Tag. Die Leute machten sich ja keine Vorstellung davon, wie ein Praxisalltag ablief:
Sprechzimmer 1: Kleinkind mit Fieber; danach Sprechzimmer 2: alte Dame mit Knochenschmerzen; Sprechzimmer 3: junge Frau mit Krebs, wieder Sprechzimmer 1: Handwerker mit vereiterter Schnittwunde; Sprechzimmer 2: Schüler mit akuter Unlust; dann drei Telefonate wegen Blutergebnissen, Krankenhauseinweisung und Problemen mit der Apotheke; Sprechzimmer 3: eine alte Frau möchte sterben; wieder Sprechzimmer 1: Ehesorgen einer guten Bekannten verbunden mit Magenschmerzen … und, und, und.
Das war eine Stunde Praxisleben – mehr nicht. So ging es tagein, tagaus. Aber das war kein Problem, Anselm Kunze arbeitete gern. Er mochte seine Patienten und seine Patienten mochten ihn. Er hätte sich, genauso wie sie, hie und da mehr Zeit gewünscht. Er konnte nur lachen über Artikel in der Presse oder Kommentare im Fernsehen, wenn es hieß, Patienten verlieren Vertrauen zu ihren Ärzten. Er hatte eher das Gefühl, Patienten und Hausarzt waren oft eine verschworene Gemeinschaft, und damit war er sicher keine Ausnahme.
Die Frau auf der Straße und ihr Hausarzt hatten Glück. Den eingestickten Namen auf dem Kittel der Frau konnte er ohne Brille nicht lesen und auch sonst hatte er keine Ahnung, um welchen Fall es ging, aber Anselm Kunze konnte ohne großes Risiko so tun, als ob ihm alles klar war.
„Machen Sie sich keine Sorgen, ich kümmere mich gleich morgen darum. Ich rufe den Filialleiter der Krankenkasse höchstpersönlich an und lasse nicht locker, bis ich die Kopie Ihrer Geldanweisung per Fax erhalten habe. Vertrauen Sie mir! Seien Sie ganz beruhigt.“
Das war kein leeres Versprechen. Die Frau kannte ihren Arzt und war erleichtert. Sie dankte, entschuldigte sich für den „Überfall“, grüßte zum Abschied, drehte sich noch einmal, winkte lächelnd und verschwand im Bäckerladen. Sie war ganz sicher, dass die Angelegenheit damit geregelt war. Sie vertraute ihrem Hausarzt. Und sie konnte ganz sicher sein.
Dr. Kunze zog sein Handy aus dem Jackett, trat etwas beiseite in einen Hauseingang und aktivierte die Diktierfunktion:
„Notiz: Frau, etwa vierzig Jahre alt, Verkäuferin bei Bäcker Martens, bis letzte Woche für längere Zeit krankgeschrieben, Problem mit dem Krankengeld.“
Das waren mehr als genug Informationen für Christine, seine beste Kraft, um die entsprechende Karteikarte zu ziehen. Seine Helferin war schon mit wesentlich weniger Information ausgekommen, um komplexere Zusammenhänge aufzudecken. Das war eine leichte Aufgabe. Auf dem Display seines Handys verfolgte der Arzt, wie das kurze Diktat in Bruchteilen einer Sekunde gespeichert wurde. Erst sein Sohn hatte ihn auf diese Funktion hingewiesen, als er den Vater wieder einmal in einem Wust von Zetteln und Schnipseln nach einer wichtigen Telefonnummer suchen sah.
„Tach, Herr Doktor, immer im Einsatz, was? Unglück schläft nie. Gut, dass es Handys gibt. Einen schönen Tag noch.“
Das war Herr Lamprecht, pensionierter Briefträger, immer freundlich, immer eine fröhliche Plattitüde auf den Lippen, immer mit dem Rad unterwegs. Ganz so, als stünde er noch in Lohn und Brot. Das Wissen um den Namen dieses Mannes reichte für eine freundliche Replik, die Anselm Kunze bereits hinterher rufen musste.
„Na, Herr Lamprecht, immer noch wie ein geölter Blitz unterwegs. Gleichfalls, gleichfalls.“
Anselm Kunze hatte den Metzgerladen fast erreicht, als ein Elternpaar mit einem kleinen Jungen an ihm vorbeistürmte. Das Kind schrie auf dem Arm des Vaters. Noch bevor der Hausarzt reagieren konnte, rief eine ältere Frau den dreien hinterher:
„Jens, Ute, bleibt stehen. Hier ist Dr. Kunze, der kann vielleicht helfen.“

Was ist mit dem Kind? Wie geht es weiter beim Metzger? Der geneigte Leser muss sich ein wenig gedulden. Die Einkaufstour eines Hausarztes in einer Kleinstadt kann sich in die Länge ziehen. Das ist wie im richtigen Leben. Da bedarf es schon mal eines zweiten Anlaufs, um die Geschichte zu Ende zu erzählen. Ein paar überraschende Wendungen wird es geben, so viel kann ich sagen.

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