Zuletzt waren Leser und Schreiber während Hausarzt Dr. Kunzes Einkaufstour unterbrochen worden. Ihnen erging es damit ähnlich wie dem Doktor selbst.
Hier nun der Rest der Geschichte, die ihren Ursprung in Dr. Kunze ganz privat nahm und mit Dr. Kunze kauft ein fortgesetzt wurde. Der Leser muss nicht jede dieser drei Episoden kennen, jede einzelne steht für sich. Aber es gibt da schon ein paar lesenswerte Einzelheiten … Nun denn, zum Einstieg seien ein paar Zeilen der Vorgeschichte wiederholt.
Oktober 2009
Dr. Kunze kauft weiter ein und macht sich Gedanken
Anselm Kunze hatte den Wurst- und Schinkenladen fast erreicht, als ein Elternpaar mit einem kleinen Jungen an ihm vorbeistürmte. Das Kind schrie auf dem Arm des Vaters. Noch bevor der Hausarzt reagieren konnte, rief eine ältere Frau den dreien hinterher:
„Jens, Ute, bleibt stehen. Hier ist Dr. Kunze, der kann vielleicht helfen.“
Die ältere Frau, seine Patientin Borger, erklärte, der Junge sei ihr Enkel. Ihre Kinder seien mit ihm zu Besuch und… Bevor sie weiterreden konnte, standen die Eltern mit dem weinenden kleinen Tommi vor Dr. Kunze und berichteten, was geschehen war. Bis vor wenigen Minuten hatten sie den Kleinen an den Händen gefasst und in die Luft geschwungen. Plötzlich habe er furchtbar geschrien und geweint. Seitdem war er nicht mehr zu beruhigen, hielt sich den rechten Arm und schrie nur immer lauter, wenn jemand seine Hand oder seinen Arm berührte.
Nach dieser Vorgeschichte bedurfte es beinahe keiner Untersuchung mehr. Der Fall war für jeden halbwegs erfahrenen Arzt eindeutig. Ein klassischer Chassignac. Pronation doloreuse. Alles klar. Eine Verrenkung des Speichenköpfchens.
Dr. med. Anselm Kunze wies den Vater an, sich mit seinem Sohn auf die nahestehende Bank zu setzen. Dann tat er das Wichtigste, was in so einem Fall seiner Meinung nach zu tun war. Er sprach beruhigend mit der Mutter und empfahl dem Vater, seinen Blick Richtung Auslagen im Schaufenster zu wenden. Mütter sorgten sich und hatten Angst um ihren Nachwuchs, Vätern wurde gern übel und schwummerig zumute. Nach derlei Vorbereitungen wandte er sich an das weinende Kind.
„Ich will deinen Arm nur mal anschauen. Und jetzt helfe ich dir, ihn zu tragen. Der ist ja bestimmt ganz schwer, dein Arm.“
Das Kind weinte lauter. Die Finger der linken Hand hingen schlaff herunter, wie gelähmt. Ganz vorsichtig nahm der Arzt die kleine Hand. Das Kind schrie. Der Vater blinzelte in Richtung seines Sohnes, schaute aber gleich wieder weg. Die Mutter hatte den fremden Arzt genau im Auge. Wehe, der tat ihrem Liebling etwas an.
Ruhig fuhr Dr. Kunze fort, nahm die kleine Hand in seine, hielt mit der anderen den Oberarm des Jungen und legte seinen Daumen sanft unterhalb des Ellenbogengelenkes ab. Noch bevor Mutter, Vater oder Sohn begriffen, was geschah, drehte und drückte Dr. Kunze den kleinen Unterarm plötzlich. Unter seinem rechten Daumen verspürte der Arzt ein leichtes Rucken. Das Knochenköpfchen der Speiche war wieder eingerenkt. Das Kind schrie auf und drückte sich, vom Arzt freigelassen, an die Brust der Mutter. Dr. Kunze erklärte kurz, was geschehen war und schloss mit den Worten:
„Sie bleiben am besten hier sitzen und beruhigen Ihr Kind. Und ich gehe dort kurz einkaufen.“ Hausarzt Dr. Kunze wies auf die Metzgerei und fügte im Stillen hinzu, so man mich lässt.
„Sie warten bitte mit dem Kleinen. Ich komme dann noch einmal zu Ihnen und kontrolliere, ob Ihr Junge noch weiter untersucht werden muss oder nicht.“
Die Eltern nickten stumm und verstört, ihr Junge schluchzte tief und nahm ein paar Atemzüge, so als ginge das Weinen dem Ende zu. Alle drei warteten auf der Bank.
In dem Spezialitätenladen ging das weiter, was Dr. Kunze für eine Einkaufstour nicht anders erwartete – Patiententreff. In dem kleinen Geschäft drängten sich sechs Kunden, der Arzt war der siebte. Die Hälfte waren seine Patienten, die andere Hälfte nicht – seines Wissens. Zu der Hälfte der Nicht-Patienten gehörte auch Frau Jander, bis vor ein, zwei Jahren eine treue Patientin. Jetzt stand sie hier und Dr. Kunze fiel auf, dass Frau Jander den Hausarzt gewechselt haben musste. Sie litt an Alterszucker, deshalb war eine derart lange Zeit ohne hausärztliche Betreuung unwahrscheinlich. Das gab ihm einen kleinen Stich, den er nicht gern zugab und den er in der Praxis, in Anwesenheit seiner Helferinnen, gern mit einer lässigen oder derben Bemerkung überspielte. Reisende soll man nicht aufhalten, hieß es dann. Oder: Soll sich der Kollege mit ihr herumschlagen. Oder: Wir können froh sein, dass wir die los sind. Nur selten, wenn es ihn wirklich überraschend traf und ihm wehtat, ließ er etwas von dem spüren, was er eigentlich immer in solchen Fällen dachte: Da müssen wir uns Gedanken machen.
Da er zu warten hatte und einige der Frauen noch untereinander tuschelten, machte er sich Gedanken. Was hatte Frau Jander wohl vertrieben? War er selbst es gewesen? Manchmal konnte er verletzend offen sein. Waren es seine Helferinnen gewesen? Die gingen gelegentlich wenig behutsam mit seinen Patienten um. Oder war ein jüngerer Kollege einfach besser als er und hatte auf Anhieb etwas diagnostiziert, was er selbst wochenlang übersehen hatte? Leider erfuhr man als Hausarzt so etwas zu selten. Wenn man überhaupt etwas in dieser Richtung mitbekam, stand man meist vor vollendeten Tatsachen, so wie er jetzt mit Frau Jander. Ein einziges Mal hatte er es erlebt, dass ein Patient sich einen Termin bei ihm hatte geben lassen, um über das Ende ihres Arzt-Patienten-Verhältnisses zu sprechen.
Damals war Anselm Kunze tief beeindruckt gewesen, überdies musste er dem Patienten Recht geben. Er war in seinem Fall fahrig gewesen, hatte dem Patienten die Beschwerden nicht recht geglaubt, war irgendwann vom Wunsch des Patienten nach Krankschreibung ausgegangen. Die Beschwerden wechselten ständig, begannen im Rücken, waren dann doch wieder Kopfschmerzen, später Schmerzen im rechten Bein, beim nächsten Termin war es das linke. Ein Wechsel, der einen Bandscheibenschaden quasi ausschloss und der danach roch, dass der Patient sich nicht gemerkt hatte, welches Bein wehtat. Ein Röntgentermin hatte nichts erbracht und bestätigte den Hausarzt in seiner inzwischen gefestigten Voreingenommenheit, dass der Mann simulierte. Bevor weitere Untersuchungen vom Hausarzt in Gang gesetzt werden konnten – an die er zugegebenermaßen nur zögerlich dachte – war der Patient verschwunden. Aus der Sicht von Hausarzt Dr. med. Anselm Kunze war der Mann wieder gesund und arbeitsfähig.
Bis Herr Kerber vor ihm saß und von dem operierten Rückenmarkstumor berichtete. Seitdem gehe es ihm wieder gut. Das hatte gesessen und das tat weh, in diesem Falle auch dem Hausarzt selbst. Dr. Kunze hatte sich erhoben, dem Mann die Hand ausgestreckt und sich entschuldigt. Er suchte keine Ausflüchte, redete nicht drum herum, behauptete nicht, letztlich doch alles richtig gemacht zu haben. Er hatte sich einfach entschuldigt. Das war das mindeste. Gott sei Dank hatte Herr Kerber die angebotene Hand angenommen.
Was sich Anselm Kunze damals vorzuwerfen hatte, war nicht, dass er einen Rückenmarkstumor übersehen hatte. So eine Geschwulst war extrem selten und nur schwer zu diagnostizieren. Sein Fehler war, dass er dem Patienten nicht geglaubt hatte, und er hätte ihm glauben müssen. Sein Trumpf als Hausarzt war ja gerade, dass er seine Pappenheimer kannte. Herr Kerber war in all den Jahren zuvor nie jemand gewesen, der auf einen gelben Schein drängte, und schon gar nicht war er der Typ Patient, der ihm unnötig die Tür einrannte. Dr. Kunzes Fehler war gewesen, seine Trumpfkarte nicht auszuspielen.
Seit dieser Geschichte, die sich zum Glück früh genug in seinem Hausarztleben ereignet hatte, spielte er seine Trumpfkarten eher einmal zu oft, als dass er sie übersah. Einmal hatte er sich einen Rüffel von einem Facharztkollegen eingehandelt, weil er einen Patienten nur deswegen zur Herzkatheter–Untersuchung schickte, weil er ihm „komisch vorkam“, und nicht weil EKG oder Blutwerte krankhaft verändert waren. Die Fachärzte in der Umgebung hielten sich inzwischen längst mit spöttischen Bemerkungen zurück.
Aber wie war er überhaupt darauf gekommen? Ach, ja. Als Hausarzt erfuhr man viel Lob und Lobhudelei, gelegentlich auch plötzlichen Ärger. Ruhige, sachliche Kritik war etwas, was im Arzt-Patienten-Verhältnis meist fehlte. Aber waren Ärzte fähig, sie zu ertragen?
Bevor sich Dr. Kunze diese Frage beantworten konnte, hatte Frau Schrader ein Problem mit ihrem Nacken und Frau Müller wollte wissen, ob ihre Werte von der letzten Blutuntersuchung in Ordnung waren. Außerdem kündigte Frau Borchert ihren Praxisbesuch für die nächste Woche an.
„Und? Wie geht’s der werten Frau Gemahlin?“
Diese Frage erinnerte den Hausarzt daran, dass er sich sputen musste. Zwar war im Laden fast noch alles versammelt wie bei seinem Eintritt, aber er war an der Reihe. Er trug seine Wünsche vor, holte seine Geldbörse aus dem Stoffbeutel, in dem der Käse aus dem Käseladen lag, nahm Wurst und Schinken entgegen, legte alles auf eine Ablage hinter einer Gondel mit Konserven, bezahlte, packte seinen Einkauf so in die Tasche, dass nichts gedrückt wurde, was Druck nicht vertrug. Männer waren da etwas umständlich. Dr. Kunze grüßte zum Abschied – und vergaß seine Geldbörse zwischen der Dosenwurst nach Hausmacherart.
Draußen warteten die Eltern. Tommi war schon wieder fröhlich und ungeduldig. Er wollte spielen, aber die Eltern verboten es ihm, solange der Arzt nicht sein Einverständnis gegeben hatte. Nach ein paar Worten zog die junge Familie unbeschwert und dankbar davon.
Später, im Supermarkt, schob Dr. Kunze seinen Einkaufswagen hastig und zielstrebig durch die Gänge. Hier und da grüßte er flüchtig, schnell nahm er den Kopf wieder nach vorn. Das war seine Taktik, wenn er mitteilen wollte: Leute, sonst gern, aber jetzt habe ich es eilig.
An der Kasse wurde er ausgebremst, als es ans Bezahlen ging. Hektisch suchte er nach seinem Geld, aber es war nicht zu finden. Verlegen mutmaßte er, dass er sein Portemonnaie wohl beim Metzger hatte liegen lassen und wollte die Waren wieder zurück an ihren Platz stellen.
„Aber Herr Doktor. Packen Sie Ihre Sachen nur ein. Ich deponiere den Bon hier neben meiner Kasse. Sie fahren in aller Ruhe zum Metzger oder nach Hause, holen Geld und kommen hier wieder her und bezahlen. Wär‘ ja grad so, als würden Sie mich nach Hause schicken, wenn ich mit blutender Nase in Ihre Praxis käme, nur weil ich meine Versichertenkarte nicht dabei habe. Nein, nein, nehmen Sie nur.“
Anselm Kunze nahm das Angebot dankbar an und versprach noch innerhalb der nächsten Stunde wieder zu erscheinen.
Draußen überquerte er den Parkplatz und aus dem Fernsehgeschäft nebenan stürmte der Inhaber auf ihn zu. In der hoch erhobenen Hand hielt er einen Gegenstand.
„Herr Doktor, Ihre CD ist endlich eingetroffen. Hier, nehmen Sie sie gleich mit.“
„Ich habe aber kein Geld dabei“, antwortete der Arzt verlegen. Hoffentlich lag das Portemonnaie noch beim Metzger, sonst hätte seine geliebte Ehefrau für die nächsten Tage reichlich Gesprächsstoff in Sachen Männer und ihre praktische Bedeutung im Alltag.
„Ach, das zahlen Sie ein andermal. Sie haben ja auch lange genug auf die CD gewartet“, sprach’s, lachte und verschwand im Laden.
Als Dr. Kunze seinen Wagen starten wollte, lief Frau Jander aufgeregt auf sein Auto zu. Auch sie winkte mit einem Gegenstand in der hoch erhobenen Hand. Seine Geldbörse. Das konnte doch nicht wahr sein! Ein Hausarztleben war doch wirklich etwas Besonderes.
„Sind Sie jetzt den ganzen Weg hierher gelaufen, um mir mein Geld nachzutragen?“
„Ich musste sowieso hierher und als wir im Laden Ihr Portemonnaie entdeckten, habe ich mich beeilt. Und übrigens damals, Dr. Kunze, das war nicht wegen Ihnen. Das war wegen Ihres Kollegen im Notdienst, der hatte schlecht von Ihnen geredet. Aber ich fühle mich dort nicht wohl. Ich komme wieder zu Ihnen zurück.“
Ihm helfen wollte Frau Jander und loszuwerden hatte sie auch noch etwas. Das nenne ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, dachte Anselm Kunze. Er war dankbar. Dankbar auch, dass auf diese Weise seine Frau nichts von seinem Missgeschick erfahren würde. Dann fiel ihm etwas auf.
„Ach, Frau Jander, woher wussten Sie eigentlich, dass ich noch zum Supermarkt wollte?“
„Na, von Ihrer Frau. Ich habe doch jetzt ein Handy, da habe ich schnell bei Ihnen angerufen. Ich hatte doch noch Ihre Privatnummer – für den Notfall. Der war ja jetzt auch eingetreten.“
Sie zwinkerte ihrem ehemaligen und künftigen Hausarzt zu.