Frage (Update 26)

Bin ich der einzige, der die gestrige ARD-Dokumentation über die von der bösen Pharmaindustrie seit 20 Jahren verhinderte rosafarbene Vitamin-B12-Salbe namens “Regividerm”, die Neurodermitis zu “heilen” in der Lage ist, spontan für einen aberwitzigen PR-Stunt erster Güte hält?

Hier der Link zur Sendung.

Die Süddeutsche Zeitung glaubt die Geschichte.

Fefe, unumstrittener Experte für Verschwörungen jeglicher Art, glaubt sie auch.

Die Home-Page des Herstellers: www.regividerm.de

Nach der Ankündigung des Dokumentarfilms „Heilung unerwünscht – Wie Pharmakonzerne ein Medikament verhindern“ , der am Montag, den 19.10.2009 um 21.00 Uhr in der ARD gesendet wird, ist ein großes Interesse an unserem Projekt „Regividerm® Salbe“ entstanden.

Wir haben uns deshalb gegen alle Widerstände entschlossen, Regividerm® Salbe selbst zu produzieren und hoffen, damit schon bald den Betroffenen der großen Zivilisationskrankheiten Neurodermitis und Psoriasis (Schuppenflechte) wirksam und nebenwirkungsarm helfen zu können!

Update: Mehr über die Hintergründe gibt es in einem gut 5 Jahre alten Artikel der Boocompany.

Update 2: Vielleicht fehlt ja dem Autor auch ein wenig Abstand zu seiner Geschichte:

Update 3: Martens’ Rezeptbuch zur Doku erreicht Platz 5 der Amazon-Bestsellerliste.

Update 4, 14:30: Platz 3. Herta Müller ist gepackt. Da geht noch was.

Update 5, 17:45: Wer das Rezeptbuch noch nicht bestellt hat, kann sich auch gleich die fertig zusammengerührte Wundersalbe holen. Das ging ja dann doch erstaunlich fix, wenn man das resignierte Gejammer im Film noch vor Augen hat.

Update 6. 18:05: Die Süddeutsche Zeitung bringt einen weiteren Artikel und hat noch nicht Lunte gerochen:

Ludwig F. würde sich dennoch freuen, wenn ein Pharmaunternehmen das Mittel vertreibt. “Wenn ich 40 Jahre alt bin”, sagt der 26-Jährige, “will ich einen Hammer wie Metrothrexat nicht mehr nehmen müssen.”

So lange wird er jedenfalls nicht mehr auf Regividerm warten müssen, dem Mann kann geholfen werden. Siehe Update 5.

Update 7: Ich habe ja schon so manche Markteinführung von fragwürdigen Medikamenten und Medizinprodukten verfolgt. Aber diese Geschichte hier hätte man nicht besser inszenieren können. Allein das Timing ist schon ein Meisterstück.

Update 8: Meine absolute Lieblingsstelle im Film ist übrigens ein Zitat von Professor Peter Altmeyer, einem der verantwortlichen Wissenschaftler der beiden bislang bekanntgewordenen Regividerm-Studien (bei ca. 11:25):

Doppelblind können Sie das nicht machen, weil das rosa ist.

Update 9: Hier hat sich jemand die beiden rosabedingt unverblindeten Studien genauer angesehen und ist nicht überzeugt.

Update 10: Die Süddeutsche Zeitung freut sich jetzt in ihrem dritten ahnungslosen Artikel mit uns, dass Regividerm überraschenderweise doch nicht erst in 14 Jahren zu haben sein wird.

Der TV-Beitrag über ein von den Pharmafirmen ignoriertes Medikament gegen Neurodermitis und Schuppenflechte hat offenbar Wirkung gezeigt. Das Schweizer Unternehmen Mavena Health Care sagte zu, die Creme “Regividerm B12 Salbe” in Kürze in Deutschland zu vertreiben.

TV wirkt.

Update 11: In einem hektisch nachgeschobenen vierten Artikel beginnt die Süddeutsche Zeitung jetzt, mit kräftigen Schlägen zurückzurudern. Aber sie glauben immer noch, dass die Studien verblindet gewesen seien:

Für Körperteile, die mit einer identisch aussehenden Placebo-Salbe bestrichen wurde, machten fünf beziehungsweise 39 Patienten entsprechende Angaben.

Nein. Denn wir wissen ja:

Doppelblind können Sie das nicht machen, weil das rosa ist.

[Edit: In der zweiten Studie ging es dann doch, obwohl “das rosa ist”. Der unglaubliche Trick: Die Placebosalbe war auch rosa!]
Und:

Weitere Studien zur Wirksamkeit seien vorläufig nicht geplant.

Hätte mich ehrlich gesagt auch überrascht.

Update 12: 21.10., 21:00 Jetzt übernimmt Spiegel Online die PR-Arbeit für die Wundersalbe.

Update 13: Martens bekommt bei Frank Plasberg mit einem seltsam deplaziert wirkenden Auftritt noch einmal eine Plattform für seine Wundersalbenmär, eiert aber gewaltig herum und kommt in der Diskussion mit den anderen Gästen schwer unter die Räder (gegen Ende der Sendung). Auch Markus Grill, nicht im Verdacht, ein Pharmalobbyist zu sein, zeigt sich überaus skeptisch. Er weist auf einen weiteren fundamentalen Denkfehler in der Geschichte hin: Der Preis der Zutaten bestimmt in diesem Markt bekanntermaßen nicht den Preis des Medikaments. Ganz im Gegenteil könnte ein Pharmaunternehmen, das die Patentrechte besitzt, nahezu jeden beliebigen Preis für die Salbe verlangen, wenn sie denn nur besser wirken würde als Vergleichspräparate (wofür es in den beiden vorliegenden Studien keinerlei Anhaltspunkte gibt). Eine zentrale Säule von Martens’ Verschwörungstheorie ist es ja, dass der “günstige” Preis der Salbe quasi vom Erfinder oder durch den geringen Preis der Zutaten vorgegeben sei, und dadurch im Falle einer Vermarktung der Salbe durch Big Pharma der bisherige große Reibach mit teuren (und schlechten) Präparaten ein Ende gehabt hätte.

Update 14: Jetzt ist die Story in den Nachrichten der ARD-Radiosender angekommen. Als Quelle für die Geschichte dient Spiegel Online. Märchen-Ping-Pong.

Update 15: Im Ökotest-Forum, in dem die Geschichte fachkundig kommentiert wird, ist ein weiterer eklatanter Widerspruch aufgefallen:

Also entweder ist Martens *wirklich* extrem ungeschickt für einen Journalisten oder er lügt.

Er wurde gestern von Plasberg gefragt, was denn Klingelhöller von dem Spinner in der Garage unterscheide.

Martens (sinngemäß): er hat erst klinisch geprüft und dann versucht, zu vermarkten.

Ja klar. Augenrollen

Für das angebliche “Jahr Recherche” ist das aber sehr mager. Er widerspricht damit sogar seinem eigenen Bericht. Aus dem Bericht geht klar hervor, dass die Mini-Studien erst nach 2000 angeleiert wurden.

Das Patent läuft dagegen auf 1994 und er hat das nach dem Bericht nach schon 1994 mehreren Firmen angeboten. hat Martens seinen eigene Film nicht gesehen?

Update 16: Ein Leser weist uns in den Kommentaren darauf hin, dass zur rechtzeitigen Erteilung der PZN (Pharmazentralnummer) für Regividerm eine Anmeldung spätestens am 25.9. notwendig war (links auf “Redaktionskalender” klicken). Dieser Termin liegt vor der ersten uns bekannten öffentlichen Erwähnung der Martens-Doku in einer KNA-Pressemeldung von 29.9. Ist noch irgendeine Aussage der Protagonisten übrig, die sich noch nicht als falsch entpuppt hat? (Siehe dazu auch diesen Kommentarthread. )

Update 17: Regividerm: Wenn die Ethikkommission Urlaub hat…

Update 18: Wir begrüßen fast drei Tage nach der Sendung die Deutsche Apotheker Zeitung als das erste “Mainstream-Medium”, das den Verstand wenigstens nicht komplett an der Garderobe abgegeben hat.

Update 19: Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Die Augsburger Allgemeine – die seinerzeit sogar unser Bankhofer-Video eingebunden hatte – schenkt uns einen Link.

Update 20: Auch der zu Beginn des Artikels erwähnte Blogger Fefe rudert jetzt zurück:

Nachdem das Regividerm jetzt im Handel ist, wird immer klarer, dass wir da alle einer fetten PR-Kampagne aufgesessen sind.

Update 21: Nachdem die eidgenössische Presse erst in breiter Front unkritisch auf das Thema eingestiegen war, vernehmen wir jetzt deutliche Worte aus der Schweiz:

Beda Stadler, Direktor des Instituts für Immunologie an der Universität Bern, verfolgt die Debatte um das Medikament mit Skepsis. «Ein bisschen Avocadoöl mit etwas Vitaminen drin kann diese schweren Krankheiten nicht kurieren. Das ist Betrug. Neurodermitis und Schuppenflechte können nicht geheilt werden». Den Doku-Film über die Entstehungsgeschichte verurteilt er. «Wenn man anfängt, auf diese Art Wundermittel zu promovieren, spielt man mit den Hoffnungen der Patienten.»

Update 22: Aus dem gleichen Text eine Passage, die meine Ausgangsthese noch einmal schwarz auf weiß bestätigt:

Mavena erwarb erst im September die Vertriebsrechte, wie Klaus Sippel, Verwaltungsratspräsident der Muttergesellschaft Salt of Life International, auf Anfrage von Tagesanzeiger.ch/Newsnetz sagt. Dass die Ankündigung des Medikaments zeitlich mit der Ausstrahlung des Dokumentarfilms zusammenfiel, ist Absicht: Einen besseren Werbefilm hätte sich die Firma nicht wünschen können.

Update 23: Die dpa ist zwar spät dran, dafür hat sie trotzdem nichts kapiert. Erbärmlich.

Update 24: Wenigstens die Nachdenkseiten haben, wenn auch spät, das getan, was ihr Name verspricht.

Vielleicht auch ein Vorbild für andere?

Update 25: Der Deutsche Neurodermitis Bund meldet sich zu Wort:

Schade, dass sich jetzt auch schon eine öffentlich-rechtliche Sendeanstalt völlig kritiklos für solche PR-Aktionen hergibt, so Thomas Schwennesen, 1. Vorsitzender des Deutschen Neurodermitis Bundes e.V., Hamburg, “Es ist eine Schande und blanker Zynismus, dass die PR-Einführung eines normalen Hautpflege-Produktes sich der Pharmaschelte als Aufhänger für eigene Geschäfte bedient.”
[…]
Die ARD hat mit diesem Beitrag den etwa fünf Millionen Neurodermitikern einen Bärendienst erwiesen und sich selbst journalistisch ins Abseits gestellt.

Update 26: Unterdessen sackt der vom Lügengebäude übriggebliebene Trümmerhaufen noch weiter in sich zusammen (vgl. Update 16):

Ein Mavena-Sprecher erklärte, es gebe seit langem ein Interesse an einem Vertrieb, nach der Marktzulassung im August habe man nun Gas gegeben.

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