Vom Regionalfernsehen des Hessischen Rundfunks war zum Glück nicht die Rede. Aber ich fange an, mir Sorgen zu machen.
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Interessenkonflikte, psychologische Mechanismen und deren Ausnutzung
Interessenkonflikte entstehen bei bezahlten (nützlichen) Tätigkeiten und durch Gefälligkeiten. Diese finanziellen Beziehungen liegen im Bereich des Erlaubten und die ausgeführten Tätigkeiten können für die Allgemeinheit von Nutzen sein (z.B. Forschungsstudien), im Gegensatz zur Korruption.
Warum können Interessenkonflikte aus angemessen bezahlten Tätigkeiten (z.B. Forschungsstudien) und aus kleinen Geschenke zu verzerrten Urteilen oder Entscheidungen führen?
Interessenkonflikte spielen sich auf der psychologischen Ebene ab. Die Betroffenen sind sich der Auswirkungen nicht bewusst. Sie sehen keine Beeinflussung ihrer Handlungsweise. Sie sehen sich als objektiv handelnde Personen.
Es gibt im Menschen tief verankerte psychologische Mechanismen und Automatismen. Sie gelten über Kulturen hinweg.
Automatische Denk- und Entscheidungsprozesse tragen wesentlich dazu bei, den Alltag zu bewältigen.
Diese verkürzten Entscheidungswege, auch Heuristiken genannt, sind häufig effizient und zielführend.
Diese Mechanismen wurden in der psychologischen Forschung untersucht. Beispiele sind der Bestätigungs-Bias, die motivierte Auswertung, das Gegenseitigkeitsprinzip (Reziproziät) und die soziale Bewährtheit.
Es können zwei Gruppen von psychologischen Mechanismen unterschieden werden: Kognitive Einflüsse und soziale Einflüsse.
Kognitive Einflüsse
Framing („Rahmung“)
Wie etwas dargestellt oder ausgedrückt wird, beeinflusst Bewertungen und Entscheidungen. Der Mensch ist keine logische Maschine. Eine 50%-ige Überlebensrate ist für das Gehirn nicht dasselbe wie eine 50%-ige Sterbensrate. Je nach Präsentation wird der Mensch handeln oder nicht. Er wird sich beispielsweise für oder gegen eine Therapie entscheiden.
Ein durch ein Hersteller vorgefertigtes Manuskript für eine Forschungspublikation kann die Fakten zu seinen Gunsten darstellen. Die Angaben sind nicht falsch. Die Leser werden jedoch aufs Glatteis geführt. Ein Forscher kann durch die Annahme der Gefälligkeit eines vorgefertigten Manuskriptentwurfes spätere Urteile verzerren.
Motivierte Auswertung (motivierte Evaluation, wish bias, self-serving bias)
Menschen kommen generell mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Resultaten, die ihnen angenehm sind.
Wenn meinem Porträt noch 10% „George Clooney“ beigemischt wird, erkenne ich mich darin schneller wieder, als wenn ich mein Original-Porträt sehen würde.
Eine uns materiell, sozial oder psychologisch vorteilhaft erscheinende Entscheidung oder Schlussfolgerung prüfen wir weniger streng, akzeptieren sie schneller, nehmen sie stärker wahr und geben ihnen mehr Gewicht.
Das Gegenteil ist der Fall bei uns unvorteilhaften Entscheidungen oder Schlussfolgerungen. Diese prüfen wir strenger, akzeptieren wir weniger leicht oder nehmen sie weniger stark wahr und geben ihnen weniger Gewicht.
Ein Forscher könnte zum Beispiel wichtige, aber (dem Sponsor oder ihm selbst) missliebige Informationen vernachlässigen oder falsch gewichten.
Diese verzerrte Informationsverarbeitung wird nicht wahrgenommen. Man spricht von einem blinden Fleck (bias blind spot).
Das Gefühl der Objektivität auf Seiten des Betroffenen (bias blind spot) ist ein wesentliches Merkmal der motivierten Evaluation.
Während motivierte Informationsverarbeitung im Alltag sinnvolle Funktionen haben kann, wie z. B. Erhalt oder Förderung des Selbstwertgefühls, stellt sie in der Wissenschaft ein Hindernis für die Generierung und Verbreitung valider Erkenntnisse dar.
Bestätigungs-Bias (confirmation bias)
Der Mensch tendiert die Daten zu seinen Gunsten zu interpretieren. Er versucht seine Erwartungen zu bestätigen. Je grösser die Erwartungen, desto resistenter werden wir gegenüber widersprechenden Erfahrungen.
Dieser Effekt wurde anhand eines schönen psychologischen Experimentes untersucht: Leute werden in verschiedene Gruppen eingeteilt und ihnen werden Zahlenreihen gezeigt. Den einen wird gesagt, es handle sich Kalorienaufnahme und Körpergewicht. Also je mehr man isst, desto schwerer wird man. Ein positiver Zusammenhang. Den anderen wird gesagt, es handle sich um Wetterdaten von unterschiedlichen Gegenden: die Regenmenge und die Anzahl Sonnentage. Ein negativer Zusammenhang. Den Probanden wurden nun verschieden präparierte Zahlenreihen gezeigt, unabhängig vom Gesagten: mit positiven Zusammenhang, mit negativen Zusammenhang und unzusammenhängend (unkorreliert). Die Leute wurden nun nach dem Zusammenhang gefragt. Die Leute tendierten einen Zusammenhang der Zahlenreihen zu erkennen, die mit der vorangegangen Schilderung zusammenpassten. Selbst dann wenn keiner Bestand. Ein tatsächlicher negativer Zusammenhang wurde komplett übersehen.
Verfügbarkeits-Heuristik
Der Mensch ist faul. Leichter verfügbare Informationen werden bevorzugt, auch wenn der Grund für die Verfügbarkeit sachlich irrelevant ist. Eine Strategie der Beeinflussung kann darin bestehen seine Informationen zu präsentieren oder gar die Person „einzudecken“. Stichwort „Werbung“.
Anker-Heuristik
Numerische Urteile und Schätzungen orientieren sich an Vergleichswerten. Diese Anfangsvergleichswerte müssen keinen Zusammenhang mit der Schätzung oder dem Urteil haben. Beispielsweise hat eine vorgängig von einem Juristen gewürfelte Zahl einen Einfluss auf das zu verhängende Strafmass. Je höher die gewürfelte Zahl, desto höher das Strafmass. Dieser Effekt ist unabhängig, ob jemand auf einem Fachgebiet Laie oder Experte ist.
Unsere Urteile orientieren sich an Referenzwerten und je nach Verfügbarkeit können dies auch völlig unsinnige Werte sein.
Ein Fehler besteht darin, an die Unbeeinflussbarkeit des eigenen Urteils zu glauben.
Unterschiedliche Anfangsinformationen („Anker“) können zu unterschiedlichen Urteilen führen.
Weitere kognitive Einflüsse sind die Repräsentativitäts-Heuristik und der Rückschau-Fehler.
Soziale Einflüsse
Gegenseitigkeitsprinzip (Reziprozität)
Geschenke werden durch Menschen erwidert. Auch wenn man die Geschenke gar nicht wollte. Durch die Annahme von Geschenken wird die automatische „Geschenkrückzahlung“ in Gang gesetzt. Der Mensch probiert dem Schenker entgegen zu kommen. Er ist bestrebt ein Geschenk durch ein grösseres Geschenk zu erwidern. Kleine Aufmerksamkeiten können so gezielt eingesetzt werden.
Ein Arzt könnte so zum Beispiel als Entgegenkommen unbewusst ein teures Originalpräparat anstatt eines preiswerten Generikas verschreiben, obwohl beide Produkte medizinisch gleichwertig sind und eigentlich das preiswertere Generika zu bevorzugen wäre.
Soziale Bewährtheit (social proof)
Die Menschen orientieren sich bei Entscheidungen am Verhalten anderer Menschen. Welches Restaurant wählst Du, das fast volle oder das halb Leere? Mit welchen Argumenten wurden Leute in einem Experiment zum Stromsparen gebracht? Mit rationalen Argumenten, mit Geldanreizen oder mit dem Hinweis, dass der Nachbar auch Strom spart? Ihr könnt dreimal raten.
Das Prinzip der sozialen Bewährtheit ist vermutlich eines der am meisten unterschätzten Einflussfaktoren unseres Handelns.
Das Prinzip der sozialen Bewährtheit lässt eigenes Fehlverhalten mit dem Fehlverhalten Anderer rechtfertigen. „Die anderen machen es ja auch.“
Konsistenz und Commitment („Verpflichtung“)
Der Mensch ist bestrebt auf seinem Weg fortzufahren. Das Weiterfahren bestätigt und rechtfertigt die bereits getroffene Entscheidung. Eine Abkehr würde als Eingeständnis gewertet, dass eine frühere Entscheidung falsch war. Dies kann dazu führen, dass auf einem eigentlich falschen Weg weitergefahren oder geforscht wird.
Eine hohe Verpflichtung (Commitment) empfinden wir, wenn
- das Verhalten freiwillig war,
- das Verhalten mit Aufwand, Anstrengungen, Hindernissen oder Nachteilen verbunden war,
- wir uns schriftlich oder
- öffentlich engagiert haben oder
- wenn eigener Besitz mit betroffen ist.
Dieser Effekt ist auch als Fuss-in-der-Tür-Technik bekannt: nacheinander werden sich steigernde Bitten gestellt. Die erste ist so gewählt, dass man kaum widersprechen kann.
„Wir sind doch Freunde, oder?“ – „Ja.“ – „Und Freunde sollten einander helfen.“ – „Richtig.“ – „Und Geld sollte dabei keine Rolle spielen, nicht wahr?“ – „Nein, sollte es nicht …“ – „Kannst Du mir 100 Franken leihen?“
Das Prinzip wird zum Problem, wenn es dazu beiträgt falsche Entscheidungen oder Standpunkte beizubehalten.
Sympathie/Attraktivitäts-Bias
Anliegen von Freunden und attraktiven Personen werden bevorzugt. Dies kann dazu führen, dass Entscheidungen weniger auf objektiven Kriterien als vielmehr aufgrund von Freundschaft und Sympathie gefällt werden. Warum sind Pharmavertreter und Pharmavertreterinnen jung und hübsch?
During training, I was told, when you’re out to dinner with a doctor, „The physician is eating with a friend. You are eating with a client.“
Was macht einen Menschen sympathisch?
- Ähnlichkeit,
- Nähe und Verfügbarkeit,
- Gegenseitigkeitsprinzip (Reziprozität),
- Assoziation mit positiven Dingen,
- Sympathie uns gegenüber und
- physische Attraktivität.
Diese Merkmale lassen sich auch gezielt erzeugen und pflegen.
Fundamentaler Attributionsfehler
Es macht einen Unterschied, ob sie eine Frage am Familientisch oder vor laufender Kamera beantworten müssen.
Bei Beurteilungen werden situative Faktoren vernachlässigt. Es wird übersehen in welchen Situationen die Personen gehandelt haben. Die Handlungsfreiheit der Personen wird überschätzt. Es wird übersehen, dass Situationen oft einen starken Druck ausüben können.
Ausnutzung der psychologischen Mechanismen
Diese psychologischen Effekte sind kein Geheimnis. Sie werden seit langer Zeit in der Forschung untersucht und sind in zahlreichen Experimenten empirisch überprüft worden.
Die meisten Leute denken, dass Sie nicht oder zumindest weniger beeinflussbar sind als die anderen Menschen. (Auch Du? Dies wird als „Dritte-Person-Effekt“ bezeichnet.) Dieser Umstand kommt der Ausnutzung solcher Mechanismen stark entgegen.
Eines der grössten Probleme der verzerrten Urteilsbildung (Bias) ist die Zuversicht des Urteilenden, von der Verzerrung (Bias) nicht betroffen zu sein.
Diese psychologischen Effekte lassen sich gezielt ausnutzen. Die Pharmaindustrie hat grosse Marketingabteilungen. Diese verfügen über das notwendige Wissen, die notwendigen Leute und die notwendigen Ressourcen. Novartis hat beispielsweise 13 Mrd. USD im Jahre 2010 für das Marketing ausgegeben. (Das waren übrigens 45% mehr als für die Medikamentenforschung!)
Dr. Daniel Vasella und Joe Gimenz wären schlechte Chefs von Novartis, wenn sie so hohe Marketingausgaben hätten, die sich nicht rentieren würden. Die Aktionäre wären unzufrieden, wenn Geschenke ohne Wirkung verteilt würden.
Zusammenfassung
Interessenkonflikte spielen sich auf der psychologischen Ebene ab. Die Betroffenen sind sich der Auswirkungen nicht bewusst und erkennen keine Beeinflussung an ihren Handlungen und Urteilen. Diese psychologischen Mechanismen wie das Gegenseitigkeitsprinzip (Reziprozität) und soziale Bewährtheit können gezielt ausgenutzt werden. Die Zuversicht in die Unbeeinflussbarkeit des eigenes Urteilens und Verhaltens ist der grösste und gefährlichste Fehler. Sie verstärkt und ermöglicht zum Teil erst das Wirksamwerden der anderen Verzerrungen (Bias) und blinden Flecke.
Weiterführende Literatur
Der Artikel basiert auf dem Fachbuch Interessenkonflikte in der Medizin: Hintergründe und Lösungsmöglichkeiten, Klaus Lieb, David Klemperer, Wolf-Dieter Ludwig, Springer, 2011. books.ch, amazon.de* Kapitel 3.
[Aktualisierung 17.03.2013: Ein illustratives Video (engl.), welches sechs Prinzipien der Überzeugung zeigen: Science Of Persuasion (11:50). Das Video basiert auf der Forschung von Professor Dr. Robert Cialdini (USA) und lohnt sich zu sehen. (NB. Die Angabe des Professors ist eine Anwendung, denn es entspricht Überzeugung durch Autorität.)]
Schweinegrippe: Unterschiedliche Maßststäbe…
Das Arzneitelegramm kritisiert in seiner aktuellen Ausgabe den uneinheitlichen Umgang der Behörden mit Todesfällen von Personen, die mit dem H1N1-Virus infiziert waren und mit Todesfällen im zeitlicher Nähe zur Schweinegrippe-Impfung.
Todesfälle von H1N1-Infizierten sind grundsätzlich meldepflichtig. Todesfälle nach Impfung sind dagegen nur meldepflichtig, wenn ein ursächlicher Zusammengang zur Impfung bereits vermutet wird.
Weiterhin wird bei H1N1-Infizierten auch ohne den Nachweis eines kausalen Zusammenhangs von einem “H1N1-assoziierten Todesfall” gesprochen. Dagegen werden Todesfälle nach Impfung regelmäßig auf bereits bestehende Grunderkrankungen zurückgeführt, wenn ein Kausalzusammenhang zur Impfung “nicht nachweisbar” ist. Dazu das Arzneitelegramm:
Rezension und Rezeption des Wunderheiler-Artikels
Zu dem Wunderheiler-Beitrag im SZ-Magazin hatte ich dem Autor Werner Bartens, leitender Redakteur im Wissenschaftsressort der Süddeutschen Zeitung, eine E-Mail geschrieben, in der ich näheres über die Studien wissen wollte, die Werner Bartens als Fakten in dem Artikel beschreibt.
Meine Recherchen waren relativ erfolglos, daher erhoffte ich vom Autor Details zu erfahren.
In der Zwischenzeit hatte mein Mitblogger hockeystick ein Posting verfasst, in dem die fehlende Distanz des Artikel im SZ-Magazin kritisiert und die Interessen des im SZ-Magazin gefeierten “Wunderheilers” hinterfragt worden sind.
Als Reaktion erhielt ich eine E-Mail von Bartens, mit dem Vorwurf, “mein” Text sei mit Häme und unredlichen Vorwürfen durchsetzt. Auf meine Frage nach den Studien wird nicht eingegangen. Mal abgesehen davon, dass Werner Bartens offensichtlich nicht verstanden hat, dass es hier zwei Blogger gibt, verweist er darauf, im Posting unsauber zitiert worden zu sein, und stellt klar, dass sein Artikel vorsichtige Formulierungen enthält, wie etwa “womöglich”, “ahnt”, “ungewiss”, “helfen könnte”, usw. Es wird ein falscher Eindruck beklagt, ohne zu reflektieren, dass der Artikel im SZ-Magazin mit “Der Wunderheiler – Dieser Mann hat eine Salbe erfunden, die dem Körper helfen soll, sich selbst zu heilen. Fauler Zauber? Nein. Die Salbe wirkt” betitelt ist.
Das Posting war von hockeystick. Aufgrund der E-Mail habe ich mir eigene Gedanken über den Artikel gemacht. Wenn man sich den Beitrag von Bartens genau ansieht, ist es ein Meisterwerk subtiler Andeutungen. Das Wort “Wunder” dominiert, wird jedoch immer wieder halb zurückgenommen. Kaum einem Leser wird auffallen, dass beim Satz “Die Experimente im Labor wurden dutzendfach wiederholt, die Studien in Fachmagazinen publiziert, in denen sie nur erscheinen, wenn andere Kollegen die Untersuchungen begutachtet haben”, keine peer-reviewten klinischen Studien mit hoher Evidenz gemeint sind, sondern Laborexperimente an Gewebeproben.
Werner Bartens hat kein Problem damit, sich zu distanzieren: “Sollten die Erprobungen an Hunderten von Patienten ähnlich erfolgreich verlaufen wie die ersten Heilversuche…” – jedoch trotzdem am Ende eine Service-E-Mail-Adresse zu nennen, die den leidgeplagten Patienten Hoffung auf ein Wunder verspricht. Das geht Hand in Hand mit der Präsentation von Kinderschicksalen, die Aufmerksamkeit für das Thema erzeugen. Die emotionale Nähe ist bei Kinden gleich eine andere, als bei übergewichtigen, rauchenden, alten multimorbiden Diabetikern, bei denen durch die Therapie chronisch offene Wunden geheilt werden könnten.
Die Kritik an dem Blog-Posting verliert sich in Wortklauberei. Die Frage der Rezeption sollte jedoch für Journalisten das eigentliche Ziel der Arbeit sein. In SPON war letzte Woche ein Artikel, der beschrieben hat, dass Piloten in schwierigen Situationen nie “Sie brauchen keine Angst zu haben” den Passagieren erzählen sollten. Genauso sollten seriöse Wissenschaftsjournalisten nie das Wort “Wunder” benutzen. Erst recht nicht inklusive Wortkombinationen achtmal im Artikel. Die Reportage suggeriert Heilung für Patienten, die jegliche Hoffnung längst aufgegeben haben und sich an jeden Strohhalm klammern. Es kommen keine Patienten zu Wort, denen Baders Heilversuch möglicherweise doch nicht das Wunder gebracht hat. Für mich fehlt es bei Bartens in dieser Hinsicht an Verantwortung. Aus dieser kommt man auch mit geschickt gesetzten Konjunktiven nicht heraus.
Vollkommen ausgeblendet werden die ethischen Aspekte der “Heilversuche”. Medizinethiker sind sich einig, dass die ärztliche Diagnose- und Therapiefreiheit nicht von Forschern missbraucht werden dürfen, um zur Umgehung gesetzlicher Vorschriften Forschungsvorhaben als Heilversuch zu tarnen. Massgeblich ist die an objektiven Kriterien zu messende Zielrichtung des geplanten, immer streng einzelfallbezogenen Vorgehens. Steht allgemeiner Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft im Vordergrund, so ist immer Forschung gegeben und Heilversuch sind ausgeschlossen. Heilversuche dürfen daher nicht rechtsmissbräuchlich zum Verschleiern von Pilotstudien oder klinischer Forschung im Allgemeinen eingesetzt werden. Das wird in dem Artikel von Bartens nicht getrennt. Heilversuche, experimentelle Forschung und klinischer Einsatz werden munter durcheinander gebracht und zu einer Wunder-Sosse verrührt.
Der Artikel könnte ein schönes Beispiel für die Anwendung der Kriterien von Gary Schwitzer abgeben, mit denen bei HealthNewsReview.org die Qualität von Medizinlournalismus bewertet wird. Ganz grob:
Werden Kosten diskutiert?
Nein. Der Aufwand für künftige klinische Studien, die Herstellung des Heilmittels, oder organisatorische Voraussetzungen für die Therapie werden nicht erwähnt. Stattdessen wird irgendwas mit 250 Euro genannt – ohne Grundlage.
Wird der mögliche Nutzen abgeschätzt?
Nur an Einzelfällen ohne Berücksichtigung der Versorgungslage.
Werden Nebenwirkungen erwähnt?
Nein. Stattdessen wird immer wieder das Wort “Wunder” gebraucht und ob es auch erfolglose Heilversuche gibt, wird nicht hinterfragt.
Evidenz?
Experimentelle Studien, Heilversuche und künftige klinische Studien werden bunt durcheinander gewürfelt und der jeweilige Evidenzgrad nicht sauber getrennt.
Wird die Erkrankung überschätzt?
Bei einige Beispielen wird sicherlich die Situation des Patienten dramatisiert und progrediente Verläufe als typisch dargestellt.
Therapeutische Alternativen?
Spielen keine Rolle in dem Artikel. Wunder sind nun mal alternativlos.
Ist der Ansatz wirklich neu?
Nicht wirklich, wenn man sieht, dass seit 15 Jahren Gewebezüchtungs-Verfahren auch von anderen Einrichtungen und Unternehmen erforscht und klinisch getestet werden. Was im Artikel kein Thema ist.
Verfügbarkeit?
Bleibt vollkommen offen, aber trotzdem gibt es eine Service-E-Mail-Adresse.
Wer wirbt dafür?
Einzig alleine Bader wird vorgestellt, der ein persönliches und finanzielles Interesse an der Therapie hat.
Interessenskonflikte?
Die vielfältigen geschäftlichen Aktivitäten von Bader und seiner Frau rund um den Therapieansatz sind bei Bartens kein Thema.
Desaströs. Aber auch wenn man die Kriteren des Deutschen Presserates ansetzt, verletzt der Artikel im SZ-Magazin meiner Meinung die Ziffer 14 des Pressekodex.