Dr. Kunze hört (nicht) auf 17

November 2009
(Un)verzichtbare Formalitäten
Dr. Kunze stellte zum wiederholten Mal fest, dass er immer häufiger Dinge tat, die er niemals hatte tun wollen. Zum Beispiel füllte er das rosafarbene Formular aus, von dem eines auch jetzt wieder vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Dieses scheußliche Stück Papier blickte ihn geradezu herausfordernd an. Es schien darauf zu warten, dass er sich den vorgedruckten Kästchen widmete. Aber eine innere Stimme befahl ihm, diesen Nonsens zu unterlassen. Du sollst keine unsinnigen Fragen beantworten und unsinnige Anträge stellen, wisperte sie. Was seine innere Stimme im Einzelnen zu derlei Formularwesen zu sagen hatte, war kein Schriftdeutsch.
Missmutig wandte sich Hausarzt Dr. Kunze dem Bildschirm zu. Dass ein Formular nicht mehr ausschließlich aus Papier bestand, sondern überdies gestochen scharf auf dem Monitor erschien, war keineswegs eine Verbesserung. Mechanisch tippte er auf die Tab-Taste. Der Cursor sprang ein Kästchen weiter. Er tippte auf die X-Taste. Wieder die Tab-Taste. Wieder ein X. Der Cursor sprang durch das Formular, bis das Programm schließlich die Frage stellte, ob das Formular ausgedruckt werden sollte.
Dr. Kunze war nicht nur im Begriff, ein Formular auszufüllen, das er nie hatte ausfüllen wollen, sondern er hatte sich mittels eines Seminars gründlich darauf vorbereitet, es ausfüllen zu können. Aber damit war es noch nicht getan. Es ging bei diesem Seminar nicht nur darum, dass er intellektuell in der Lage war, das Formblatt auszufüllen. Vielmehr hatte er durch das Seminar die Erlaubnis erworben, diese bestimmte Art Formblätter ausfüllen zu dürfen, sprich eine Lizenz zum Antrag stellen. Und am Ende war das Ziel all der Mühen: einen Antrag stellen zu dürfen, was für ein Unsinn. Damit war Reinhard Meys gesungene Satire Wirklichkeit geworden. Er, Hausarzt Dr. med. Anselm Kunze, und mit ihm tausende Berufskollegen, stellten Anträge auf ein Antragsformular und ließen sich obendrein dafür ausbilden. Warum tat man so etwas? Warum tat er so etwas?
Dr. Kunze war seit beinahe dreißig Jahren Hausarzt, hatte die Sechzig überschritten und ließ sich ohne Not auf Dinge ein, die er nie hatte tun wollte. Er ließ sich Anweisungen gefallen, obwohl er längst das Rückgrat besitzen musste, sich gegen sie zu stemmen. Er machte immer weiter mit. Es wurde langsam Zeit, dass er aufhörte.
Es gab zwei Ausreden, warum er derart gegen seine Überzeugung handelte. Die erste war: Er bekam ungefähr zehn Euro für das Ausfüllen des Formulars. Das war natürlich kein ernsthaftes Motiv. Die zweite Ausrede war der Patientenwunsch. Ohne Antrag auf ein Antragsformular war der Antrag nicht zu beantragen. Und ohne Antrag keine Leistung der Krankenkasse, einerlei, worum es ging.
Mürrisch schob er das Papier beiseite. Zum Vorschein kam ein weiteres Formular, diesmal in schwarz-weiß. Eine Bescheinigung für seine Patientin Gertraud Schmidt, dass ihr Rheuma chronisch war und dass die Krankheit sie den Rest ihres Lebens begleiten würde, ohne Aussicht auf Heilung. Die so genannte Chroniker-Bescheinigung.
Gegen ein derartiges Attest war nichts einzuwenden. Chronisch kranke Menschen konnten die Bescheinigung bei ihrer Krankenkasse einreichen und auf diese Weise Geld sparen, beispielsweise die Praxisgebühr. Aber warum musste er für eine lebenslang andauernde Krankheit jedes Jahr aufs Neue bescheinigen, dass sie ein Leben lang andauerte? Hatte er nicht in den beiden Jahren zuvor bereits bestätigt, dass diese Erkrankung nicht heilbar war?
Mit einem heftigen Stoß warf sich der Hausarzt zurück. Die Lehne seines Schreibtischstuhls ächzte. Ha! Jetzt hatte er sich selbst erwischt. Praxisgebühr! Er hatte es zwar nicht gesagt, aber gedacht, das magische Wort Praxisgebühr. Eine Gebühr, die er verpflichtet war, alle drei Monate von seinen Patienten zu kassieren. Praxisgebühr , so hatte er die zehn Euro nie nennen wollen, denn das Geld war nichts weiter als eine verkappte Erhöhung der Krankenkassenbeiträge und hatte mit ihm und seiner Arztpraxis nichts zu tun. Praxisgebühr? Das Unwort wollte er nicht einmal denken! Es war eine Krankenkassengebühr und nichts anderes!
Und wer musste diese zehn Euro im Auftrag der Krankenkassen einziehen, quittieren und verbuchen? Nein, nicht etwa die Krankenkasse selbst! Der Patient musste nicht etwa zur Filiale seiner Krankenkasse gehen, die Gebühr dort entrichten und damit sozusagen Erlaubnisscheine für einen Arztbesuch empfangen, nein, das wäre ja zuviel Arbeit für die Krankenkassenangestellten gewesen. Nein, der Patient musste bei jedem ersten Besuch im Quartal Eintritt in seine Praxis zahlen. Kassieren, zählen und verbuchen mussten seine Helferinnen und durften sich dabei die mehr oder weniger intelligenten Bemerkungen der Patienten anhören. Von Einfallsreichtum war ihre Kundschaft in dieser Hinsicht nicht gesegnet, besonders diejenigen Patienten nicht, die ganz überrascht waren, dass schon wieder ein neues Quartal begonnen hatte. Oder diejenigen, die ganz sicher wussten, dass sie im laufenden Quartal ihre Gebühr bereits entrichtet hatten. Selbst am ersten Juli morgens um acht waren sie da ganz sicher.
Die Patienten. Sie konnten eigentlich nichts dafür, taten ihrerseits aber genauso wenig wie er selbst gegen die ganze Bürokratie. Die Buchungsarbeit blieb allein an der Arztpraxis haften, alle hatten sie in der Praxis ständig mit Geld zu tun, statt mit den Sorgen und Nöten der Patienten, noch dazu mit Bargeld. In den ersten Quartalswochen verließ Hausarzt Dr. Anselm Kunze seine Praxis regelmäßig mit einem Packen Geldscheine in der Aktentasche. Was für ein Unsinn, dazu nicht ungefährlich. Es war geradeso, als lebte er nicht im 21. Jahrhundert, sondern in den fünfziger oder sechziger Jahren. In jedem anderen Lebensbereich war Bargeld auf dem Rückmarsch, Barzahlung war geradezu nostalgisch. Man stelle sich nur mal vor, der Personalchef einer Firma ginge wieder mit einer Handvoll Lohntüten durch die Flure oder ein Mieter müsste seine Miete im Umschlag zwei Häuser weiter zu seinem Vermieter tragen.
Aber in der täglichen Praxisarbeit war der Bargeldverkehr wieder ganz neu eingeführt worden. Und niemand protestierte ernsthaft. In den ersten Tagen eines Quartals war es sogar ratsam, zweimal täglich zur Bank zu laufen, denn Dr. Kunzes Mitarbeiterinnen war nicht wohl zumute mit der vollen Kasse am Empfang. Und schicken konnte er sie auch nicht – aus demselben Grund.
Widerwillig trug der Hausarzt die Diagnose chronische Polyarthritis im dritten Jahr nacheinander ein, bescheinigte wieder einmal, dass die Krankheit unheilbar ist, seit mehr als einem Jahr andauerte, und dass sie Frau Schmidts alltägliches Leben beeinträchtigte. Dann stieß er mit seinem Kugelschreiber auf das Blatt hinab, als wollte er es durchbohren und warf sein Kunze hin. Was er da hingekritzelt hatte, konnte kein Mensch lesen. Aber darauf kam es nicht an, hier zählte nur der Stempel, kombiniert mit irgendeinem Kringel.
Oben auf dem Stapel des abzuarbeitenden Schriftverkehrs lag jetzt Anselm Kunzes persönliches Lieblingsformular – eine statistische Erhebung zur Zuckerkrankheit, in diesem Falle ging es um Herrn Bäumer. Nichts als bürokratischer Aufwand zur Erlangung von Daten. Daten, deren Auswertung eine untergeordnete Rolle spielte, da war sich Anselm Kunze sicher. Wichtig war allein, dass die Daten erfasst waren, damit ein statistischer Fall geschaffen wurde, der Sondermittel aus einem Sonderbudget für die Krankenkassen einbrachte. Wie der Teufel hinter der armen Seele waren die Versicherer hinter solchen Fällen her. Medizinisch gesehen profitierten weder Arzt noch Patienten im Geringsten.
Er stutzte. Das Formular war zwar vollständig ausgefüllt, aber von der Erfassungsstelle mit einer Mängelrüge zurückgesandt worden. Das ausgefüllte Formular war maschinell nicht lesbar, hieß es, die Unterschrift des Patienten rage über das dafür vorgesehene Feld hinaus, stand in der Begründung. Dieses Formular stammte noch aus den Zeiten, bevor der Hausarzt eine Unterschriftenfeld-Schablone aus Pappe gebastelt hatte, damit solche „Grenzüberschreitungen“ durch die Patienten nicht passieren konnten. Was für ein Blödsinn, und er machte da mit.
Dr. med. Anselm Kunze, Facharzt für Allgemeinmedizin, kochte vor Wut. Er warf den gesamten Papierkram in den dafür vorgesehenen Korb zurück und rief vorne bei den Damen am Tresen an:
„Holt bitte den Aktenstapel aus meinem Zimmer, sonst platze ich. Und bringt mir einen Patienten. Ich will endlich einen Kranken behandeln. Ich bin Arzt.“

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