Hilfe für einen Illegalen

Es ist schon eine Weile her. Medizynicus war damals noch Student, im achten oder neunten Semester und unsterblich in Annette verliebt.
Annette war eine Klassefrau, sie sah ein wenig aus wie Mia, die durchgeknallte Gansterbraut aus Pulp Fiction und ebenso wie diese stand sie ständig unter Strom. Sie war auf jeder Demo zu finden und außerdem Mitglied im Studentenparlament, im Frauen-und-Lesben-Referat (als heterosexuelle Quotenfrau) und im Ausländerreferat AusländerINNENreferat.
Und dann war da noch der Arbeitskreis für Asyl- und Flüchtlingspolitik. Da war sie auch drin.
Eines schönen Abends klingelte in Medizynicus’ WG das Telefon (O doch, Handys gab’s damals schon, aber ein normalsterblicher Student konnte sich sowas nicht leisten!).
Annette war dran.
„Sag mal, Du bist doch Mediziner…“
Medizynicus wurde ein wenig rot. Wie gut, dass Annette das nicht sehen konnte. Sie selbst studierte Germanistik und noch irgendwas, aber ich glaube kaum, dass sie viel Gelegenheit zum Studieren hatte in diesen Tagen.
„…Du kannst uns helfen, wenn Du magst!“ flötete Annette weiter.
„Selbstverständlich. Worum geht’s denn?“
Annette druckste ein wenig herum.
„Ich weiß nicht, ob das Telefon abgehört wird. Treffen wir uns in zehn Minuten am Parkplatz vor der Mensa!“
Medizynicus schwang sich aufs Fahrrad. Es war vielleicht zehn Uhr abends und der Uni-Campus war menschenleer.
Nach einer Weile erschien ein klappriger Opel älteren Baujahres.
Annette riss die Tür auf.
„Steig ein!“
„Wo fahren wir denn hin?“
„Sag ich Dir gleich!“
Drinnen roch es würzig-aromatisch nach einer Kräutermischung, die überwiegend aus Canabis Inidica bestand. Ein langhaariger Typ saß am Steuer, ein zweiter Typ mit Pferdeschwanz am Beifahrersitz und Annette neben mir auf der Rückbank. Aus den Boxen wummerten Raeggae-Rhythmen.
„Willst Du mir jetzt sagen, worum es geht?“
„Ein paar Minuten noch!“
Die Gegend, in der wir dann ausstiegen erinnerte ein wenig an die Bronx: Schlaglöcher im Asphalt, Gründerzeit-Wohnhäuser mit zerbröckelnden Fassaden und an einer davon hing ein großes Transparent: „Dieses Haus ist besetzt!“.
Wir betraten eine Küche und Annette tuschelte kurz mit einem der Bewohner. Dann ging es wieder ins Treppenhaus und bewaffnet mit Taschenlampen hinunter in den Keller. Durch ein unbeleuchtetes Labyrinth aus Kisten, Chaos und Sperrmüll gelangten wir schließlich in Kabuff, aus welchem uns eine Zigarettenqualmwolke entgegenschlug.
In einer Ecke stand ein Fernseher. Wundersamerweise war er eingeschaltet und stellte die einzige Lichtquelle des Raumes dar. Es lief ein Programm in einer mir unverständlichen Sprache.
Dem Fernseher gegenüber war ein Sofa.
Darauf lag, in mehrere Decken gewickelt ein Mensch.
Er hatte kurzes, dunkles Haar, war unrasiert und sein Alter war schwer zu schätzen. Auf dem Boden vor ihm standen ein ziemlich voller Aschenbecher, eine Wasserflasche und ein Glas.
„Das ist Quasim!“ sagte Annette.
Ich lächelte und streckte dem Fremden meine Hand hin.
„Hallo Quasim!“
Der Fremde lächelte verlegen zurück und drückte meine Hand.
Und dann hustete er. Ein gigantischer Hustenanfall, wie ich ihn selten erlebt habe.
„Quasim ist krank.“ sagte Annette.
„Er braucht einen Arzt!“ meinte ich.
Annette lächelte.
„Bingo. Deswegen bist Du hier.“
Ich erschrak.
„Warum bringt Ihr ihn nicht zu einem richtigen Arzt? Ich meine… er sieht wirklich nicht gesund aus…“
Mr. Pferdeschwanz schüttelte den Kopf.
„Quasim ist nicht versichert,“ erklärte er, „und abgesehen davon wird er von der Polizei gesucht.“
Ich zuckte abermals zusammen.
„Das heißt, Ihr versteckt ihn vor der Polizei?“
„Quasim kommt aus dem Iran. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Seine Abschiebung ist für nächste Woche geplant.“
„Aber…“
„Quasims Bruder wurde letztes Jahr hingerichtet. Quasim hat Angst, verstehst Du?“
Ich wurde blass.
„Und wenn die Sache rauskommt? Ich meine, wenn sie ihn erwischen und Euch?“
Annette legte eine Hand auf meine Schulter.
„Weißt Du, das nennt sich Zivilcourage!“

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