Die Artikelserie Chronik eines angekündigten Freitodes beschäftigt sich mit dem Thema Selbstbestimmtes Sterben im Hochalter.
Der andere Hausarzt hat sich mit diesem schwierigen Kapitel der Medizin in den letzten Wochen und Monaten intensiv befassen müssen. Der wahre Fall eines Patienten hat aufgezeigt, wie weit Theorie und Praxis voneinander entfernt sein können und welche Schwierigkeiten diese Entfernung birgt. Der Fall ist so interessant und so erschütternd zugleich, dass ich ihn ausführlich schildere. Die realen Personen werden selbstverständlich durch Änderung der Charaktere und der Namen geschützt. Die Geschichte selbst verliert dadurch nicht an Wahrheit.
Teil 1 Vorbemerkungen
Die Debatte um den selbst bestimmten Tod im Alter wird so lange kein Ende nehmen, wie es die moderne Medizin und unterschiedliche Weltanschauungen sowie Religionen gibt. Die Debatte wird also voraussichtlich ewig fortgesetzt. Ein Ende ist nicht absehbar. Im Gegenteil. Es kann davon ausgegangen werden, dass die moderne Medizin immer mehr Lebenszeit schafft. Dieses Mehr, dieser Gewinn, wird vorrangig die Anzahl der Lebensjahre betreffen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Qualität der hinzu gewonnenen Lebensjahre zunächst einmal zweitrangig ist. Das ist kein böser Wille, hier geht es um das Machbare. Die Geschichte der Menschheit zeigt, dass das Machbare gemacht wird, eben auch um den Preis, dass es dem, was geschaffen wurde noch an Qualität mangelt. So geschieht Fortschritt. Johannes Gutenberg hat seine technischen Erfindungen mit beweglichen Lettern begonnen und niemand hat ihm je vorgeworfen, warum er nicht gleich den Offset- oder Digitaldruck erfunden hat.
Wenn also eine Lebensverlängerung möglich ist, so wird diese auch angestrebt. Das gilt für das Leben des Menschen an sich ebenso wie für den Einzelfall.
Verschiedene Wege
Hochalte, kranke und sterbende Menschen besitzen im Wesentlichen drei Instrumente mit dieser Entwicklung zurecht zu kommen oder ihr entgegen zu wirken:
Sie begeben sich in die Hände des Schicksals oder die einer höheren Macht und harren der Dinge, die da kommen mögen – in Zuversicht, Gleichgültigkeit oder Angst.
Sie bedienen sich des Instruments der Verfügung und legen fest, wie im Falle der eigenen Entscheidungsunfähigkeit mit ihnen verfahren werden soll. In aller Regel bedeutet dies eine aktive Beschneidung der medizinischen Möglichkeiten. Denn ohne Verfügung liefe das „volle Programm“.
Sie kümmern sich frühzeitig um einem aktiven Freitod. In der Diskussion sind hier verschiedene Varianten, vom professionellen Unternehmen bis zur halblegal besorgten Zyankalikapsel aus Holland.
Theorie und Praxis
Im vorliegenden Fall wurden die drei oben genannten Wege als verschiedene „Stadien“ durchlebt. Vom „Es wird schon werden“, über das Aufsetzen einer Patientenverfügung, bis hin zum organisierten Freitod. Eine bewegender letzter Lebensabschnitt.
Der Personenkreis, der sich um einen guten Zeitpunkt des eigenen Todes Gedanken macht, wird mit zunehmender Lebenserwartung größer. Das ist insofern logisch, als dass es immer mehr alte und hochalte Menschen gibt und geben wird, die den Zeitpunkt eines würdigen Todes zu verpassen fürchten. Die Angst vor Siechtum, Schmerz und Belästigung anderer nimmt mit dem Alter zu. Jeder Mensch weiß im Prinzip um die hohe Lebenserwartung und jeder Mensch kennt Fälle, deren Lebensphase des Hochalters und des Sterbens unwürdig verlaufen sind oder noch verlaufen. Der Gedanke an den selbstbestimmten Tod liegt da offenbar näher als noch vor Jahren und Jahrzehnten.
Dieser Artikel will nicht die Diskussion um den selbstbestimmten Tod fortführen oder gar das Für und Wider abwägen. Darum wird es im folgenden Text nicht gehen. Die wahre Geschichte soll ein Bild von der Realität eines Problems geben über das gern hitzig und theoretisch diskutiert wird, wobei der rein praktische Blickwinkel gern außer Acht gelassen wird. Am Ende wird die Geschichte wohl denjenigen die Augen öffnen, die glauben, die Freiheit, den Zeitpunkt des eigenen Todes wählen zu können, wäre an sich schon etwas Erstrebenswertes und ein hohes Gut.
Ernüchtert wurde unter anderem auch der Verfasser dieses Textes selbst, der im Grunde zu einem Maximum an Selbstbestimmung für den Menschen im Allgemeinen und den Kranken oder den Hochalten im Besonderen tendiert. Theorie und Praxis sind zwei Welten, auch und gerade bei diesem Thema.
Der Fall
Es geht um Walter Gensch, 84 Jahre alt. Die Geschichte beginnt ungefähr Mitte des Jahres 2006. Zu diesem Zeitpunkt ist mir der Patient Gensch seit Jahren bekannt. Herr Gensch ist chronisch krank, leidet vor allem unter einem chronischen Schmerzsyndrom, Polyarthrose, Herzschwäche und seit 2006 verstärkt sich eine seit langem vorhandene Depression
Fortsetzung folgt im nächsten Artikel dieser Reihe.
Zum Thema selbstbestimmtes Altern empfehle ich die Erzählung Spätvorstellung, geschrieben vom Autor dieses Blogs, erschienen im Verlag Leben&Schreiben