Dezember 2009
Es weihnachtet sehr
Helmut Grabert saß seinem Hausarzt gegenüber und bat verschämt lächelnd um ein Weihnachtsgeschenk. Er zwinkerte dem Arzt zu, so wollte er Unsicherheit überspielen. Der Patient rutschte unbehaglich auf der Sitzfläche seines Stuhls, als sei sie ihm zu heiß. Dr. med. Anselm Kunze begriff sofort, was Herr Grabert meinte und wunderte sich, warum ihm das Thema nach all den Jahren noch immer peinlich war. Der Hausarzt nickte, lächelte wissend, erhob sich und verließ das Sprechzimmer.
Wenige Augenblicke später kehrte Dr. med. Anselm Kunze zurück und überreichte Alfred Grabert eine Packung Vitala. Der Patient bedankte sich artig und sprach leise davon, dass er sich bei anderer Gelegenheit revanchieren würde. Der Hausarzt wehrte das ab, wusste aber andererseits die Erdbeermarmelade und das Quittengelee der Graberts zu schätzen. Eine kleine Musterpackung Vitala – vier Tabletten, die das Eheleben seines Patienten bereicherten, wobei Hausarzt Dr. Kunze sich das im Einzelnen nicht vorstellen wollte. Hermine Grabert wog mehr als zwei Zentner und ihr Gatte sah aus, als wöge er nicht einmal einen. Beide waren über Achtzig. Frau Grabert litt an Rheuma und ihr Mann an schwerer chronischer Bronchitis, jeder Atemzug ein Pfiff, trotz starker Medikamente. Aber die Liebe fand ihren Weg – zu jeder Zeit und in jedem Alter. Wer wusste das besser als ein erfahrener Hausarzt.
Anselm Kunze hatte über die Jahre lernen müssen, sich mit dem Thema Sex im Alter zu beschäftigen. Als Jungarzt hatte er sich das nicht vorstellen können. Später hatte er Fortbildungen besucht, um besser helfen zu können. Das Verlangen nach körperlicher Liebe hörte nie auf, allerdings hinkte gelegentlich das Können dem Wollen hinterher. Hausarzt Dr. Kunze war inzwischen selbst in einem Lebensalter, von dem er noch vor zwanzig, dreißig Jahren behauptet hätte, es wäre längst asexuell. Wie kam man nur als junger Mensch darauf?
Wenn der Vertreter der Pharmafirma Plitzner bei Dr. med. Kunze auftauchte, bat der Arzt grundsätzlich um Musterpackungen von Vitala, im stillen Auftrag seiner Patienten. Der Plitzner-Mann verkniff sich ein Grinsen, das hätte sagen können: Mann, ich weiß doch Bescheid. Auch Doktoren können Potenzprobleme haben. Anfangs hatte Anselm Kunze noch möglichst lässig erklärt, dass es nicht um ihn ginge. Aber je mehr er seine Bitte um ein Medikamentenmuster kommentierte, umso mehr verhärtete sich der unausgesprochene Verdacht des Pharmavertreters. Irgendwann verzichtete der Arzt auf jede Bemerkung und nahm die Musterpackungen dankbar entgegen, gern auch mehrere, denn nicht nur Herr Grabert litt unter Standschwierigkeiten. Dr. Kunzes Vorgehen konnte als finanzielle Vergünstigung betrachtet werden, denn die Tabletten waren sündhaft teuer – mehr als zehn Euro das Stück. Aber das machte dem Hausarzt nichts aus, er brauchte die Pillen tatsächlich nicht selbst, nahm kein Geld dafür und Patienten wie die Graberts hätten sich die Wunderpillen niemals leisten können. Wenn Anselm Kunze etwas hasste, war es Zweiklassen-Medizin.
Herr Grabert erhob sich und wollte wie üblich etwas anfügen, etwas erklären, ausführlicher danken. An dieser Stelle floss meist ein Witzchen ein, gern auch schlüpfrig. Aber der Hausarzt hob den Arm und gebot mit dieser Geste Einhalt. Es war nicht nötig, dass der Patient ihm übermäßig dankte, als Hausarzt reichte er nur Geschenke weiter. Auf einen zweideutigen Spruch nach dem Motto: Süßer die Glocken nie klingen, oder was Grabert sonst so zur Weihnachtszeit einfallen würde, konnte er verzichten.
Als er allein im Sprechzimmer saß, bemerkte Dr. Kunze, dass die Kerze im Adventsgesteck auf seinem Schreibtisch beinahe abgebrannt war. Das war ein Glücksfall. Nicht, weil der Stummel einen Brand hätte auslösen können, das Gesteck war in dieser Hinsicht sicher. Nein, der Glücksfall war sein Bemerken. So konnte er die Kerze austauschen und seiner Frau damit signalisieren, wie sehr er ihre Bemühungen um weihnachtliche Stimmung in der Praxis beachtete. Sollte seine Ehefrau, was gelegentlich vorkam, obwohl sie vorn am Empfang arbeitete, sein Sprechzimmer betreten und den Kerzenstummel mit erkaltetem Docht entdecken, würde sie das als Missachtung ihrer Mühe empfinden. Ganz bestimmt mit Recht. Ihre Stimmung wäre dann entsprechend. Auch mit Recht. Also öffnete Dr. med. Anselm Kunze dankbar die oberste Schublade seines Schreibtisches, griff nach einer neuen Kerze und sorgte so für Ersatz.
Er lehnte sich einen Moment zurück, genoss die kleine Flamme, die auf dem Docht tanzte und war zufrieden. Wie oft war es ihm schon passiert, dass er einen frischen Blumenstrauß, ein neues Bild seiner Familie auf dem Schreibtisch, dezenten Osterschmuck oder eben ein Adventsgesteck tagelang nicht bemerkt hatte. Allein, dass seine Ehefrau nachfragen musste, wie ihm das neue Dekor gefiel, war ein Affront. Und wenn er einmal zur Notlüge griff, durchschaute seine Ehefrau sehr schnell, dass er nur so tat, als wüsste er, wovon sie redete.
Deswegen summte er jetzt leise die Melodie von „Oh, du fröhliche“ und beobachtete noch ein wenig die brennende Kerze, als er eine Bewegung in der offenen Sprechzimmertür wahrnahm. Er sah auf und erkannte seine Frau.
„Weißt du, Anselm, das ist ein liebes Zeichen, dass du meine Bemühungen mit deiner Freude und Aufmerksamkeit honorierst. Danke.“
Sie gab ihm rasch einen Kuss.
„Aber, aber, ich habe zu danken. Du schmückst doch mein Zimmer immer so nett, dass mich sogar die Patienten darauf ansprechen.“
„Wirklich? Auch, Herr Grabert?“
„Nun, Herr Grabert nicht gerade, aber andere.“
Anselm Kunze parierte den Trick seiner Ehefrau ohne zu zögern. Ihm war sofort klar, dass sie herausbekommen wollte, ob der Patient ihren Ehemann auf die abgebrannte Kerze angesprochen hatte. Anselm Kunze war nicht nur als Hausarzt ein alter Hase. Er lächelte seine Frau an und fragte wie nebenbei:
„Wolltest du etwas?“
„Ich? Ach, ja. Dein Kollege Dr. Krohne fragt an, ob du seinen Notdienst am 2. Weihnachtstag übernehmen kannst. Seine Tochter hatte einen Autounfall im Ausland. Die Krohnes wollen so schnell wie möglich zu ihr und über die Festtage bleiben. Er hat aber diesen vermaledeiten Bereitschaftsdienst, den er nicht los wird.“
„Kann ich ihn denn übernehmen?“
„Das musst du wissen, du bist derjenige, der arbeiten muss.“
„Und du bist diejenige, die statt Weihnachten mit einem gelassenen Ehemann zu feiern, zumindest am zweiten Festtag einen angespannten Arzt ertragen muss.“
„Mir ist es gleich, weil unser Weihnachten in Familie dieses Jahr sowieso erst am Neujahrswochenende stattfindet. Du weißt ja, die Kinder können nicht früher.“
„Gut, dann sag` Krohne zu. Er wird erleichtert sein. Ich wäre es auch an seiner Stelle. Und du auch, nicht wahr?“
Seine Frau nickte und verschwand, während Hausarzt Dr. Kunze versonnen in die Kerze starrte. Damit er das nicht zu lange tat, klingelte das Telefon. Christine von vorn war am Apparat.
„Herr Köhler von der BKK Norderelbe. Er will wissen, warum Frau Fischer noch immer krank geschrieben ist, obwohl sie arbeitsfähig aus der Kur entlassen wurde.“
„Sag ihm, er kann mich… Nein, sag es nicht. Leg‘ auf! – Ja, Kunze!“
„Hier ist Köhler von der BKK Norderelbe. Es geht um Frau Fischer. Warum arbeitet die gute Frau noch immer nicht? Sie ist aus der stationären REHA als arbeitsfähig entlassen worden und Sie haben einfach die Krankschreibung verlängert?“
„Wer ist dort? Köhler, sagten Sie? Sagt mir nichts. Der Bundespräsident werden Sie ja wohl nicht sein. Ha, ha. Ich kenne Sie nicht, also ist es schlecht mit einer telefonischen Auskunft, nicht wahr? Sie wissen ja – die Schweigepflicht! Ich rufe Sie zurück. Bis später.“
„Halt! Sie brauchen doch meine Nummer.“
„Wenn ich eine Nummer zurückrufen würde, die Sie mir geben, bräuchte ich nicht zurückzurufen. Ich werde mich über die BKK Norderelbe verbinden lassen. Wenn Sie das nicht wollen, stellen Sie Ihre Frage bitte schriftlich.“
Der Filialleiter der BKK am anderen Ende der Leitung war zähneknirschend einverstanden. Dr. Kunze sah auf die Uhr. Es war kurz vor zwölf. Der Hausarzt wechselte das Sprechzimmer, begrüßte die Patientin Kluge, ging in den Verbandsraum und wechselte den Verband von Patientin Lierse, kehrte zurück ins Hauptsprechzimmer und besprach mit Patientin Rohde die bevorstehende Operation, dann sah er auf die Uhr. Halb eins. Freitag. Er ließ sich mit der BKK Norderelbe verbinden. Als sein Telefon klingelte hatte er die Sekretärin von Filialleiter Köhler am Apparat. Herr Köhler war zu Tisch. Dr. Kunze wies die Sekretärin an, ihrem Chef Herrn Köhler eine Notiz zu hinterlegen, dass er zurückgerufen hatte.
„Haben Sie meinen Namen notiert?“
„Ja, habe ich, Herr Dr. Kunze.“
Der Hausarzt setzte eine Spritze im Labor, führte eine Krebsvorsorgeuntersuchung durch, danach eine Blutdruckkontrolle, dann ein Belastungs-EKG, danach untersuchte er die Nieren der kleinen Felicitas per Ultraschall. Die Mutter machte sich Sorgen, weil das sechsjährige Mädchen gelegentlich nachts einnässte. Dr. Kunze wusste, dass die Probleme des Mädchens nichts mit dem Zustand ihrer Nieren oder Harnblase zu tun hatten, sondern in der kleinen Seele ruhten. Aber bevor der Hausarzt auf die Ehe der Eltern zu sprechen kommen wollte, musste er sicher sein, dass körperlich mit dem Kind alles in Ordnung war. Felicitas schenkte ihm nach der Untersuchung ein selbst gemaltes Bild zum Abschied. Der Hausarzt bestaunte den prächtigen Tannenbaum voller bunter Kugeln und bedankte sich.
Das Telefon läutete. Christine hatte Herrn Köhler von der BKK am Apparat. Hausarzt Dr. med. Anselm Kunze ließ ausrichten, dass er zu Tisch sei. Er lächelte bei Kerzenschein. Er würde um kurz nach drei noch einmal zurückrufen. Freitags war um diese Zeit in behördenähnlichen Einrichtungen längst Feierabend. Er summte die Melodie von “Fröhliche Weihnacht überall” und bewegte seine beiden Zeigefinger dazu, als dirigierte er einen Chor.