Letztens hatte ich jenen alten Schmöker erwähnt. In dem Roman gibt es noch eine weitere Szene, welche ich gerne an dieser Stelle in etwas freier Form nacherzählen möchte:
An einem stürmischen und ungemütlichen Winterabend sitzt der Hausarzt Dr. G. auf seinem heimischen Sofa vor dem prasselnden Kaminfeuer und – nein, er liest keine Fachliteratur, sondern von mir aus einen kitschigen Roman oder von mir aus schaut er auch den ‘Tatort’..
Plötzlich klingelt es an seiner Haustür.
Ein Mann in Schlapphut und Trenchcoat steht davor.
„Ich habe sie telefonisch leider nicht erreichen können!“ sagt der Fremde.
„Tut mir leid, ich habe das Telefon leider nicht gehört!“ erwiedert Dr. G. In Wirklichkeit ist er natürlich einfach nicht drangegangen, weil er gerade auf dem Klo oder in der Badewanne oder vor der Glotze war.
„Es ist ziemlich dringend!“
„Warum rufen Sie dann nicht den Notdienst? Der Diensthabende Kollege…“
„Es ist eine… eine etwas speziellere Sache…“
Dr. G. begriff, dass der Abend für ihn inzwischen längst gelaufen war.
„Also gut. Wie kann ich helfen?“
„Es geht um meine Frau! Es geht ihr nicht gut!“
Dr G. nimmt seinen Mantel. Der Fremde schielt argwöhnisch auf Dr. G.’s Arzttasche.
„Sagen Sie mal… Sie haben doch hoffentlich eine ordentliche Dosis Morphium dabei?“
Dr. G. runzelt die Stirn.
„Normalerweise nicht.“
„Dann packen Sie bitte ein paar Ampullen ein!“
„Aber…“
„Meine Frau ist Privatpatientin!“
Nehmen wir an, dass Dr. G. das Gewünschte tatsächlich im Haus hat. Er steckt ein paar Ampullen ein und folgt dem Fremden wortlos draußen.
„Wir nehmen meinen Wagen!“ sagt der.
Gemeinsam steigen sie in einen Fünfer-BMW und brausen durch die nächtliche Stadt.
„Ich muss Ihnen ein paar Dinge über meiner Frau erzählen,“ sagt der Fremde, „Es handelt sich um die bekannte Schauspielerin Mrs. Diva. Sie ist krank. Sie ist abhängig von Opiaten. Nun hat sie schon eine Weile lang nichts mehr genommen und leidet an heftigen Entzugssymptomen. Ich kenne das. In so einer Situation ist sie unberechenbar. Sie müssen Ihr etwas spritzen. Einfach nur, damit sie es bis morgen durchhält. Dann sehen wir weiter…“
Dr. G. sagt nichts.
„…und ich bin mir sicher, meine Frau wird sich mehr als erkenntlich zeigen…“
Vor einer großartigen Villa halten sie an.
Sie betreten eine geschmacklos und teuer eingerichtete Wohnung.
Und dann?
Nach kurzem Smalltalk verabreicht Dr. G. die gewünschte Spritze.
Die Patientin bedankt sich überschwänglich, drückt ihm ein Bündel Geldscheine in die Hand und schenkt ihm dann noch einen wertvollen Ring.
Soweit die Geschichte.
Muss ich erwähnen, dass Dr. G. mit einem derartigen Verhalten heutzutage wahrscheinlich bald seine Approbation los wäre?
Aber die Geschichte spielt ja auch 1931, natürlich ohne Tatort und 5er BMW.
Quelle: „Der Arzt Gion“ von Hans Carossa, Originalausgabe: Insel-Verlag, 1931, derzeit nur noch antiquarisch aufzutreiben