Die Patientin schaut blass aus und gar nicht gesund.
Erwartungsvoll schaut sie den Herrn Doktor an. Der starrt auf den Bildschirm seines Praxiscomputers, tippt eine Weile herum, schüttelt den Kopf, tippt erneut, starrt dann mit aufgerissenen Augen auf den Bildschirm, blättert in der Patientenakte, wird rot, und wendet sich dann endlich der Patientin zu.
„Und?“ fragt die.
Der Herr Doktor seufzt.
„Es ist leider ziemlich kompliziert…“
„Sie meinen, es ist ernst?“
Der Herr Doktor nickt.
„Wie ernst denn?“
Dreiundzwanzig Jahre ist sie alt und schwanger in der zehnten Woche. Es war nicht unbedingt ein Wunschkind, eher das, was man etwas flapsig auch als „Zufallstreffer“ bezeichnen könnte, also ein geplatztes Kondom nach einer… naja, sagen wir, eher Gelegenheitsbekanntschaft.
Einen festen Partner hat sie nicht, und einen Job auch nicht, noch nicht einmal eine abgeschlossene Ausbildung.
„Sie haben eine seltene Form einer Anämie. Diese Schwangerschaft stellt eine große gesundheitliche Gefahr für Sie dar!“
„Wie meinen Sie das?“
„Wahrscheinlich wäre eine Abtreibung…“
„Nein!“
„Die Fortsetzung dieser Schwangerschaft brächte Sie in Lebensgefahr!“
„Warum?“
„Sie haben zu wenige rote Blutkörperchen.“
„Aber für mein Baby wird es doch wohl reichen, oder?“
„Aber nicht für Sie! Sie könnten sterben.“
„Ich werde dieses Kind austragen. Eine Abtreibung kommt für mich nicht in Frage!“
„Aber überlegen Sie doch…“
Die Patientin steht auf.
„Vielen Dank, Herr Doktor!“
Sie reicht ihm die Hand und verläßt den Raum.
Siebeneinhalb Monate später bringt sie ein gesundes Kind zur Welt.
Acht Monate später ist sie tot.
Die Geschichte ist natürlich fiktiv. Und sie stammt auch nicht von mir: Es handelt sich um den Anfang des Romans „Der Arzt Gion“ Hans Carossa, erstmals veröffentlicht 1931. Ich habe die Geschichte – dem Sinn nach leicht verändert – und in etwas modernere Worte gefasst nacherzählt.