Chronik eines angekündigten Freitodes 2

Teil 2 Der Anfang vom Ende
(wenn Sie Teil 1 Vorbemerkung lesen möchten, bitte hier klicken)
Walter Gensch war 81 Jahre alt als er im Frühjahr 2006 seine Frau verlor. Das Ehepaar Gensch lebte bis dahin in der typisch symbiotischen Gemeinschaft vieler älterer Leute, die im Alter noch ihren Wohnort wechseln. Sie waren auf sich allein gestellt und ließen selbst wenig Kontakt nach außen zu. Zudem hatten sie ständig das Gefühl als Zugereiste angesehen zu werden, die nicht in die Kleinstadt gehörten, in der sie nun lebten. Obwohl sie seit 15 Jahren dort wohnten.
Andererseits waren sie sich selbst genug. Alle ehemaligen Freunde und Bekannten lebten in Hamburg und waren, wie sie selbst, nicht mehr mobil genug, sich noch gegenseitig zu besuchen, oder es fehlte am nötigen Elan. Die beiden Töchter des Ehepaares Gensch lebten in eigenen Familien, jeweils über dreihundert Kilometer entfernt. Sie besuchten ihre Eltern mit einer Frequenz von etwa sechs Besuchen im Jahr, was immer mit zeitlichem und organisatorischem Aufwand verbunden war.
Tod der Ehefrau
Als Erika Gensch starb, verlor ihr Ehemann Walter nicht nur seine geliebte Ehefrau, sondern auch den einzigen Menschen, mit dem er regelmäßig sprach oder etwas unternahm. Er verlor die Frau, mit der er in die Stadt spazierte, die sich um ihn kümmerte oder um die er sich zu kümmern hatte und mit der er streiten konnte.
Walter Gensch war Witwer, plötzlich und unerwartet, im Alter von 81 Jahren. Obwohl seine Frau noch zwei Jahre älter war als er und wesentlich kränker, hatte keiner von beiden damit gerechnet, eines Tages allein in der Welt zu stehen. Dafür gab es keinen Plan.
Walter Gensch wurde von einer Welle der Trauer erfasst, die ihn vollkommen aus der Bahn warf. Er war nicht nur traurig, er war traurig und einsam. Dieser Zustand dauerte an. Die Zeit heilte seine Wunden nicht. Ein Jahr später war er noch genauso tieftraurig wie kurz nach dem Tode seiner Erika. Die Trauer begann längst sich zu verselbstständigen und verstärkte seinen ohnehin vorhandenen Hang zur Schwermut. Akademisch betrachtet wandelte er auf dem schmalen Grat zwischen einer mittelschweren und schweren Depression. Manchmal war er kaum noch in der Lage seinen Alltag zu bewältigen. Walter Gensch wollte sterben, starb aber nicht. Er verlor an Gewicht, weil er weder kochen noch essen mochte. Seine Kleidung war nicht mehr von einwandfreier Sauberkeit und gelegentlich roch man, dass er seine Körperhygiene vernachlässigte.
Kranke Seele, kranker Körper
Dazu geschah ihm, was in der Altersdepression häufig geschieht: Bereits vorhandene Schmerzen verstärkten sich. Sein Rücken, sein Nacken, der Kopf und die Gelenke schmerzten mit zunehmender Intensität. Statt im Nachtschlaf für wenige Stunden Entspannung zu finden, quälte er sich wach im Bett, weil er nicht schlafen konnte.
Walter Gensch ließ sich von mir, seinem Hausarzt, unter gutem Zureden Schmerz- und Schlafmittel verschreiben, Antidepressiva oder gar eine Gesprächstherapie verweigerte er.
Nach etwa eineinhalb Jahren der Einsamkeit, im Herbst 2007, in einer Phase leidlicher psychischer Stabilisierung, entschloss Walter Gensch sich zu einem Umzug in eine andere Wohnung. Dort sollte alles besser werden. Die Erinnerung an seine Frau würde nicht in jeder Nische lauern. Dazu lag seine neue Wohnung im Parterre, außerdem war sie preiswerter, obwohl sie sogar ein bisschen größer war als die alte Wohnung. Allerdings spielte Geld im Leben von Walter Gensch keine entscheidende Rolle.
Fehler in der Lebensorganisation
An dieser Stelle passierten gleich mehrere Fehler auf einmal, die auch durch den Hausarzt nicht zu verhindern waren. Der Umzug geschah nicht zur besseren Versorgung, also etwa hin zu irgendeiner Form der Betreuung. Mit dem Umzug verließ Walter Gensch das Zentrum der Kleinstadt und zog in die Peripherie. Mit dem Umzug in die Peripherie entfernte sich Walter Gensch nicht nur von allen Versorgungsstellen, wie Einkaufsmöglichkeiten, Apotheken, Banken und Ärzte, sondern er trieb seine ohnehin quälende Einsamkeit noch voran. In der alten Wohnung konnte er wenigstens theoretisch vor die Tür treten und war in der Stadt unter Leuten. Statt sich zu verkleinern, da er bereits mit der Pflege der alten Wohnung überfordert war, wurde die neue Wohnung noch größer.
Walter Gensch war jetzt traurig, einsam, überfordert und zusätzlich fremd in seiner Umgebung. Seine Töchter erhöhten zwar die Besuchsfrequenz, aber ein Angebot in die Nähe einer seiner beiden Töchter zu ziehen, lehnte Walter Gensch mit dem Verweis auf die Grabstelle seiner Ehefrau ab. Nebenbei gesagt, hätte das die Situation auch nicht vereinfacht.
Thema Patientenverfügung
Neben vielen anderen Aspekten einer zwar von Sympathie getragenen, aber schwierigen Patient-Arzt-Beziehung zwischen Walter Gensch und mir, kam immer häufiger das Thema Patientenverfügung auf den Tisch. Walter Gensch wollte möglichst bald sterben und nicht durch intensiven medizinischen Einsatz daran gehindert werden. Schließlich wurde eine Variante der Patientenverfügung verfasst, die nur die nötigste Pflege und eine großzügige Schmerztherapie noch zuließ. Die Grundzüge seiner Verfügung wollte Walter Gensch auch für den Zustand des klaren Bewusstseins angewandt wissen. Das hieß, ich sollte als Hausarzt nur noch Untersuchungen und Therapien durchführen, die das Leben erträglicher gestalteten, es aber nicht verlängerten.
Daraus ergaben sich einige gravierende Konsequenzen. Beispielsweise war Walter Gensch Hypertoniker (Bluthochdruck), litt aber nicht darunter. Er verlangte also von mir die Blutdrucktabletten abzusetzen. Als Hausarzt sehe ich bei einem, zu diesem Zeitpunkt 82-jährigen, jedes Recht, dies zu verlangen und entsprach nach eingehender Beratung des Für und Wider den Wünschen des Patienten. Am Ende blieben die Schmerztherapie und die Mittel gegen Herzschwäche, die ich so veränderte, dass eine gewisse Bluthochdrucktherapie darin enthalten war. Dazu kamen Schlaftabletten, die Walter Gensch ohne mein Wissen zu sammeln begann, bis er meinte genügend zusammenzuhaben.
Fortsetzung folgt im nächsten Artikel dieser Reihe.
Zum Thema „Selbstbestimmtes Altern“ empfehle ich die Erzählung Spätvorstellung, geschrieben vom Autor dieses Blogs, erscheinen im Verlag Leben&Schreiben

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