Teil 3 Der Suizidversuch
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Ich hatte Walter Gensch ein Notrufsystem aufschwatzen können, bei dem er sich jeden Morgen telefonisch zu melden hatte. Rief er nicht an, fuhr jemand vom ambulanten Pflegedienst zu ihm und öffnete mit einem zu diesem Zweck deponierten Schlüssel, seine Wohnung und sah nach ihm.
So wurde Walter Gensch gefunden. Er hatte etwa dreißig Schlaftabletten auf einmal genommen, nicht ahnend, dass ich ihm eine Medizin verschrieben hatte, mit der es praktisch nicht möglich war, sich selbst zu töten. Dazu hatte er selbst den Zeitpunkt der Einnahme mit sieben Uhr morgens gewählt, um acht Uhr war sein Kontrollanruf fällig. Wollte Walter Gensch wirklich nicht mehr leben oder wollte er demonstrieren wie schlecht es ihm ging? Die Frage war für mich als Hausarzt schwer zu beantworten, spielte aber zunächst keine wichtige Rolle.
Missglückter Neustart
Für Herrn Gensch folgten sieben Wochen stationärer Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, in denen er sich zunehmend stabilisierte, obwohl er selbst am Ende meinte, diese Zeit hätte ihm überhaupt nichts genützt. Er vermisste seine Frau und hatte Schmerzen, wo genau, konnte er nicht sagen, der Rücken, die Gelenke, alles tat weh.
Die in der Klinik verordneten Antidepressiva ließ er sich zwar von mir weiter verschreiben, ich kam aber ziemlich bald zu der Überzeugung, dass er sie nicht mehr einnahm. Die Einschätzung meines Patienten war bis hierher schon schwierig gewesen, wurde aber in der Folgezeit immer schwieriger.
Einerseits klagte er über Schmerzen, wollte aber keine stärkeren Medikamente, erst recht keine morphinartigen, weil die süchtig machen konnten. Ein des Lebens müder, Schmerz geplagter sorgte sich um Sucht?
Im Zwiespalt
Einerseits wollte Walter Gensch keine aufwändige medizinische Therapie mehr, sorgte sich aber um einen Leberfleck, dessen Harmlosigkeit ich ihm wieder und wieder bestätigen musste. Eines Tages hatte er einen Termin bei mir zum Fäden entfernen. Er hatte sich den Leberfleck bei einem Chirurgen entfernen lassen. Die Hautveränderung war tatsächlich harmlos gewesen, aber das war nicht das Entscheidende.
Walter Gensch erwartete nichts mehr von der Medizin, erschien aber mindestens einmal die Woche in meiner Sprechstunde, wenn nicht öfter. Das wäre noch mit Einsamkeit zu erklären gewesen, aber er verlangte darüber hinaus jedes Quartal mindestens drei oder vier Überweisungen zu irgendwelchen Spezialisten. Eines Tages erschien er bei mir und erzählte mir von einem Besuch bei einem Kniespezialisten, der ihm ein neues Knie einpflanzen wollte. Ich sollte nur bestätigen, dass er dafür gesund genug war und außerdem sollte ich ihm Nachhinein eine Überweisung ausstellen, damit er einen Teil der vierhundert Euro Privatrechnung nicht selbst tragen musste. Wir waren uns zuvor mehr als einmal einig geworden, dass seine Gesundheit so einen Eingriff nicht zuließ. Ganz zu schweigen von der psychischen und physischen Kraft, die man im Anschluss an so eine Operation bedurfte.
Wunsch zu sterben
So ging es viele Monate hin und her. Einerseits der Wunsch nach dem Sterben mit Standardsätzen wie „ach, wäre ich doch schon tot“ oder „warum kann ich nicht einfach sterben“ oder „am liebsten wäre ich jetzt bei meiner Frau“. Im selben Tenor der schriftlich verfügte Wunsch nach Minimaltherapie, andererseits immer wieder eingeforderte maximale Medizin.
Allein sieben verschiedene Augenoperationen ließ Walter Gensch über sich ergehen, von denen ich überzeugt war, dass keine einzige ihn weitergebracht hatte. Allenfalls die Operateure, aber das ist ein anderes Kapitel der Medizin.
Dann überraschte er mich mit einem neuen Gedanken: Ich sollte ihm beim Sterben helfen, und es sollte mein Schaden nicht sein. Er wollte eine Spritze von mir, aber seinen Töchtern sollte ich um Himmels Willen nichts davon erzählen.
Meine Überlegungen dazu: Dieser Mann hatte jedes Recht zu sterben. Das Jahr 2008 neigte sich dem Ende zu und er war 83 Jahre alt. Seine Schmerzen waren unerträglich und wurden zeitweise nur noch vom Grad seiner Depression übertroffen. Aber wollte er wirklich sterben? Oder war er im Grunde nur einsam?
Ich schlug einen Handel vor, mit dem ich genauso gut ein Eigentor schießen konnte. Aber Patienten erwarten eine Antwort von ihren Hausärzten. Die Situation um den Wunsch nach Sterben ist nicht so Schwarz oder Weiß, wie sie gern in den Medien dargestellt wird, dies kann man leicht aus dem bisherigen Text erkennen. Was hilft es dem Patienten, wenn ich sage: „So etwas mache ich nicht. Das ist verboten.“ Das weiß er selbst. Er will Hilfe und dafür bin ich als Arzt eigentlich da.
Ungewöhnlicher Handel
Mein Vorschlag war folgender: Der Patient sollte für ein Jahr in eine der besten Senioreneinrichtungen des Ortes ziehen. Wollte er nach diesem Jahr noch immer sterben, würde ich ihm dabei in irgendeiner Form helfen. Wie genau, sagte ich nicht, wusste ich auch nicht. Aktive Sterbehilfe kam für mich in diesem Fall aus vielerlei Gründen auch nicht in Frage.
Mein Hintergedanke war, dass sich das vorgeschlagene Seniorenwohnheim sehr stark um den sozialen Kontakt der älteren Herrschaften kümmerte. Meiner Meinung nach war Einsamkeit zentrale Problem in Walter Gensch‘ Leben. Zum anderen herrschte in dieser, wie in jeder anderen Wohneinrichtung für ältere Menschen, ein Mangel an männlichen Mitbewohnern. Drei Jahre nach dem Tod seiner Frau, war Walter Gensch vielleicht reif für ein neues Beziehungspflänzchen.
Sollte dieses Jahr auf Probe den gewünschten Erfolg bringen, war ich aus der Sache raus und dem Patienten wäre gedient. Sollte Walter Gensch allerdings nach wie vor von der Sehnsucht zu sterben beherrscht sein, hätte ich ein Problem. Aber wie sagt Sam Shem in seinem House of God so treffend? Der Patient ist der Kranke.
Walter Gensch wollte sich meinen Vorschlag durch den Kopf gehen lassen.
Fortsetzung folgt im nächsten Artikel dieser Reihe.
Zum Thema selbst bestimmtes Altern empfehle ich die Erzählung Spätvorstellung, geschrieben vom Autor dieses Blogs, erscheinen im Verlag Leben&Schreiben.