Chronik eines angekündigten Freitodes 4

Teil 4 Organisiertes Sterben
Walter Gensch durchschaute mich und lehnte meinen Vorschlag ab. Er tat das sogar mit einem verschmitzten Lächeln, wie ich es schon lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte und meinte: „Guter Versuch.“
Er war jetzt entschlossen zu sterben. Kurz vor Weihnachten 2008 eröffnete er mir, dass er alles Nötige in die Wege geleitet habe. Er käme nur noch einmal, um sich von mir zu verabschieden. Er dankte mir für die Fürsorge und für die jahrelange Begleitung, auch im Namen seiner Ehefrau. Ein paar Tränen liefen ihm übers Gesicht, aber er wischte sie schnell beiseite und richtete sich auf.
Ich schluckte und wollte Näheres wissen. Er erzählte mir von einem Schweizer Unternehmen, das sich rührend um Menschen wie ihn kümmerte, für die sonst niemand bereit war, etwas zu tun. In der Schweiz würde er eine Spritze bekommen und die würde ihn endlich sterben lassen.
Geschäft mit dem Tod
Als Arzt weiß ich um diese Praktiken im Ausland, weiß auch, dass man in Holland Zyankalikapseln kaufen kann. Persönlich habe ich mich in meiner Einstellung aber gegen die Lösung einer Art kommerziellen Todesfabrik entschieden. Die Sache mit dem Erwerb einer Zyankalikapsel steht auf einem anderen Blatt Papier und birgt meiner Meinung nach ihre ganz eigenen Probleme.
Manchmal bin ich so schrecklich nüchtern und deswegen fragte ich:
„Müssen Sie etwas bezahlen?“.
„Natürlich. Der Tod ist nicht umsonst, der Freitod erst recht nicht.“
Ein Satz für ein Buch.
„Mögen Sie mir sagen wie viel?“
Genau genommen war es reine Neugier, aber auch der Wunsch nach Information, falls ein anderer Patient mal danach fragen würde. Wir Hausärzte benutzen Patienten oft und gern als Informationsquelle für andere Patienten. An die genaue Summe erinnere ich mich nicht mehr, aber es waren einige tausend Franken Anzahlung, somit auch einige tausend Euro. Eine Anzahlung auf den Tod.
„Was heißt das, Anzahlung?“
„Das ist eine ganz seriöse Firma. Die wollen und müssen alles genau prüfen. Dafür ist die Anzahlung da. Unter anderem müssen sie auch prüfen, ob die Entscheidung zu sterben, tatsächlich meine freie Entscheidung ist, die ich mit klarem Verstand getroffen habe. Ob ich wirklich so krank bin, dass der Tod für mich eine Erlösung wäre.“
„Also wird es noch mehr Zahlungen geben?“
„Ja, noch zwei. Eine weitere, wenn alles klar ist und der Termin anberaumt wird und eine dritte sozusagen posthum.“
Verwaltungsakt: Sterben
Anschließend bat mich Walter Gensch um eine Bescheinigung, in der ich als Hausarzt bestätigte, dass der Kunde beide Voraussetzungen für den organisierten Freitod erfüllte. Daran war nicht zu zweifeln. Und wer war ich, der einem Entschlossenem dieses Papier vorenthalten wollte? Aber ich stellte eine Bedingung, ich wollte den Briefwechsel mit der Firma einsehen.
Um es kurz zu machen, der Patient und ich sahen uns doch noch einmal wieder, allein deswegen, weil ich das Attest persönlich aushändigen wollte. Falls die Frage beim Leser auftaucht: Eine Gebühr nahm ich für die erste Version nicht. Das Gebühren erheben konnte einem in diesem Fall verlitten werden. Allerdings folgten noch mindestens zwei weitere Versionen von Bescheinigungen, soweit ich mich erinnere, außerdem noch etwa 12-15 weitere Wiedersehen mit Walter Gensch.
Die neuen Attestanforderungen hingen mit den Wünschen der Schweizer Sterbefirma zusammen. Allerdings konnte ich den Leuten nicht weiterhelfen. Ich formulierte die Bescheinigungen zwar um, aber viel Neues gaben sie nicht her. Hier wurde mehr oder weniger von mir verlangt, ich möge eine tödliche, unheilbare Krankheit bescheinigen. Das konnte ich nicht. So war es einfach nicht. Hier ging es, wie so oft in meinem Beruf, um das Verschieben des Schwarzen Peters.
Problem: Töchter
Die häufigen Begegnungen mit dem Patienten hatten einen weiteren Grund. Zwar verabschiedete sich Walter Gensch beinahe jedesmal für immer von mir, aber manchmal eben nicht. Die Male, die er es nicht tat, schwankte er in seiner Entscheidung, seinen Tod zu organisieren. Ich hatte das Gefühl auch die Grundfesten seines Atheismus schwankten. Manchmal sprach er davon, dass ein Gott, wenn es ihn denn gäbe, so ein Leben wie seines nicht gewollt haben konnte.
Für sein Schwanken machte er seine Töchter verantwortlich. Konnte er es den beiden „Mädchen“ antun, war die Dauerfrage. Mit seiner älteren Tochter, Monika, hatte er inzwischen geredet. Sie war die einfachere von beiden. Von ihr wusste er, dass sie ihn in jedweder Richtung unterstützen würde. Lisa, die Jüngere, durfte von nichts wissen.
„Die würde Zeter und Mordio schreien,“ sagte Walter Gensch. Und ich antwortete:
„Das geht nicht. Sie können Ihre Tochter nicht mit Ihrer letzten Tat hintergehen. Dann hätten Sie zu beiden nichts sagen dürfen und in einem posthumen Brief an sie um Verständnis bitten müssen. Aber Sie können nicht mit der einen reden und mit der anderen nicht.“
Ob das, was ich tat oder sagte, richtig war oder nicht, wusste ich nicht. Aber ich wollte so antworten und so raten, wie ich es all die Jahre getan hatte – so wie ich selbst dachte und empfand. Immerhin kam der Patient zu mir. Warum hätte er zu mir kommen sollen, wenn er nicht meinen Rat hätte haben wollen.
Dann folgte der Tag der Abreise in die Schweiz.

Fortsetzung folgt im nächsten Artikel dieser Reihe. 
Zum Thema selbst bestimmtes Altern empfehle ich die Erzählung Spätvorstellung, geschrieben vom Autor dieses Blogs, erscheinen im Verlag Leben&Schreiben.

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