Chronik eines angekündigten Freitodes 6

Nachtrag
Zehn Tage nachdem ich zum letzten Mal von Walter Gensch gehört hatte, erfuhr ich von seinem Tod. Auf dem kleinen Pult, auf dem ich Wiederholungsrezepte oder Überweisungen unterschreibe, haftete ein Klebezettel. Ich erkannte die Schrift einer meiner Helferinnen. Sie hatte ein Kreuz gezeichnet, ein Datum daneben geschrieben, das drei Tage zurücklag und den Namen von Walter Gensch notiert, in Klammern darunter stand: Tel. Tochter.
Das war‘s also, dachte ich. Die Tochter vermeldet den Tod ihres Vaters und lässt mir die Nachricht ausrichten. Ein wenig enttäuscht war ich schon. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber sicher ein bisschen mehr als das. Eine Woche später bestand wohl auch auf der anderen Seite das Bedürfnis nach mehr.
Abschließendes Telefonat
Gut zwei Wochen nach dem organisierten Freitod meines Patienten erhielt ich einen Anruf von Monika Müller, geborene Gensch. Sie wollte mir etwas näher berichten, wie die letzten Tage mit ihrem Vater verlaufen waren. Mit trauriger Stimme vergewisserte sich die Frau am anderen Ende der Leitung, dass sie mich mit ihrem Anliegen nicht störte.
„Keineswegs,“ antwortete ich, „ich bin froh, dass Sie anrufen. Das Ende wäre sonst seltsam abrupt.“
„Ja, das empfinde ich auch so: Außerdem habe ich, ehrlich gesagt, das Bedürfnis mit jemandem zu reden, der meine Gedanken nachvollziehen kann. Ich bin zwar nicht ihre Patientin, aber vielleicht haben sie zehn Minuten Zeit.“
Das hatte ich. Allein schon, um diese Angelegenheit für mich abzurunden, war mir das Telefonat wichtig.
Was folgte war eine kurze Zusammenfassung der letzten Tage im Leben von Walter Gensch. Während mir Tochter Monika am Telefon berichtete und kaum ihre Tränen im Zaum halten konnte, versuchte ich mich in die Situation hineinzuversetzen, von der sie erzählte.
Es begann mit der Zugfahrt. Eine Zugfahrt in den Tod.
Letzte Reise
Selbst, wenn man vollkommen entschlossen ist zu sterben und der Begleiter einen in jeder Hinsicht unterstützt, muss das eine zutiefst seltsame und traurige Fahrt gewesen sein. Dazu dauerte sie über viele Stunden, vom Norden Deutschlands bis nach Zürich ist es kein Katzensprung.
Es folgten drei Tage im Hotel vor Ort in der Schweiz. Weil noch einige Formalien zu erledigen waren und ein genauer Termin gesetzt werden musste, lag dieser Zeitraum zwischen Ankunft und Endpunkt der Reise. Drei Tage.
„Was macht man in diesen drei Tagen? Was macht man in solchen drei Tagen?“ fragte mich die Tochter am Telefon. Ich wusste es nicht und blieb stumm. Stadtbummel, Museumsbesichtigungen, Theaterbesuch, all das wird wohl kaum in Frage gekommen sein. Sie fuhr fort:
„Ich weiß nicht, was man macht. Ich weiß nur, was wir gemacht haben. Wir haben viel geweint.“
Monika Müller weinte wieder. Sie führte die teils schönen, teils skurrilen und makabren letzten Stunden mit ihrem Vater noch ein wenig aus. Noch ergreifender als ihr Weinen waren ihre tapferen Versuche nicht zu weinen.
Ihren letzten Satz werde ich nie vergessen.
Bitteres Fazit
„So eine Reise wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht.“
Dieses bittere Fazit wird meine Beratung lenken, wenn ich jemals wieder in einem solchen Fall zu beraten habe. Die Worte erinnern an die riesige Kluft zwischen Theorie und Praxis, gerade wenn es um das Thema „Selbstbestimmtes Sterben“ geht. Die Worte haben schon den Tenor dieser Artikelserie gelenkt, denn eigentlich bin ich ein Verfechter von Selbstbestimmung jeder Art.
Aber auch die andere Seite muss gesehen werden. Das Sterben in der Gegenwart ist häufig lang und wenig würdevoll. Für die Zukunft steht zu befürchten, dass es länger und unwürdiger wird.
Geschwiegen wurde lange genug. Wir werden darüber reden müssen.

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