Dr. Kunze hört (nicht) auf 19

Januar 2010
Praxisalltag und Weltanschauung
Hausarzt Dr. Kunze ging im Verbandsraum einer seiner „Lieblingsbeschäftigungen“ nach: Er pulte einen Ohrstecker aus dem Ohrläppchen eines dreijährigen Mädchens. Das Kind brüllte wie am Spieß. Kein Wunder. Der rückwärtige Verschluss war vollkommen unter der Haut verschwunden. Entsprechend musste Dr. Kunze die eitrige Wunde mit der Pinzette ein wenig spreizen und gleichzeitig von vorn gegen das Ohrläppchen drücken. Christine hielt den Kopf und die Oberarme des Mädchens, die Mutter die Beine, so gut sie konnte.
Der Clip quoll aus dem Eiter hervor. Mit einer Fremdkörperzange zog der Arzt ihn ab. Danach ließ sich der Ohrstecker auf der Vorderseite aus dem Ohrläppchen ziehen. Es war geschafft. Das kleine Mädchen wollte weg von dem bösen Mann, in die Arme der Mutter. Die blickte ihrerseits nicht besonders freundlich. Mitfühlend streichelte sie über den Kopf ihres Kindes, drückte es an sich und flüsterte mit kaum verborgenem Vorwurf:
„Hätte man nicht eine Betäubung machen können? Musste sich die Kleine so quälen!“
„In eine eitrige Infektion hinein darf keine örtliche Betäubung gespritzt werden. Außerdem wäre eine Betäubungsspritze mindestens ebenso schmerzhaft gewesen wie die ganze Aktion an sich. Eine Vollnarkose wäre die Alternative gewesen, allerdings…“
Dr. med. Anselm Kunze verstummte. Was ihm auf der Zunge lag, war der Vorschlag, wie solche ärztlichen Maßnahmen ganz und gar zu vermeiden waren, zumal bei dreijährigen Kindern. Er verkniff sich die Bemerkung. Stattdessen strich er eine desinfizierende Salbe auf die Wunde, legte eine Kompresse darüber und klebte sie vorsichtig fest. Das kleine Mädchen schrie auf.
„Vorsichtig! Sie tun ihr ja weh!“ Die Mutter war den Tränen nahe.
Dr. Kunze war zeitlebens ein ruhiger Mensch, aber manchmal hatte er das Gefühl, sich wehren zu müssen.
„Apropos, Vorsicht! Wenn wir schon dabei sind: Dieses Ohr ist für einen Ohrring, Piercings und dergleichen für die nächsten Jahre nicht zu gebrauchen. Die Gefahr einer chronischen Knorpelentzündung ist zu groß. Zum Thema Vorsicht noch eines: Dem Kind hätte dieser kleine Eingriff komplett erspart werden können, wenn es nicht zuvor eine vollkommen überflüssige Operation hätte erleiden müssen.“
„Mein Kind ist nicht überflüssig operiert worden.“
„Und ob! Ihm ist eine Operationswunde zur Einbringung eines Fremdkörpers zugefügt worden.“
„Wann?“
Die Mutter begriff nicht.
„Ich weiß nicht, wann. Das müssen Sie wissen, wann die Kleine ihre Ohrlöcher bekommen hat. Gleichwie, ich möchte die Wunde übermorgen kontrollieren. Heute im Verlauf des Tages kann ihre Tochter noch ein oder zwei Schmerzzäpfchen nötig haben. Haben Sie noch welche?“
„Mit Zäpfchen brauchen Sie Kathleen nicht zu kommen. Schreiben Sie bitte Saft auf.“
Hausarzt Dr. Anselm Kunze ärgerte sich über den Streit mit der Mutter der kleinen Patientin, den er vom Zaun gebrochen hatte. Er ärgerte sich, dass er nicht einfach seinen Mund gehalten hatte. Jetzt lag ihm der nächste Kommentar zum Thema „Zäpfchen nimmt mein Kind nicht“ auf den Lippen. Das Kind war drei Jahre alt. Diese Art Gespräche ließen sich beliebig ausweiten: „Den Saft mag mein Kind nicht“, „Da können Sie sich auf den Kopf stellen, das Pulver trinkt mein Kind nicht“, „Da können Sie meinem Kind nichts vormachen, die Tropfen schmeckt es raus“ und so weiter und so fort. Lag es an seinem Alter, dass ihn solche Aussagen reizten? War das Zeitgeist und hatte man das als alternder Mensch und Arzt zu akzeptieren? War das ein Zeichen von Altersstarrsinn, wenn man nicht akzeptierte? Oder war es auch in dieser modernen Zeit objektiv falsch, sich am Gängelband des Nachwuchses führen zu lassen?
Anselm Kunze mochte diesen Umgang mit Kindern nicht. In Notzeiten – und Zeiten von Krankheit zählten für ihn dazu – musste es möglich sein, den Nachwuchs zu führen. Für eine optimale medizinische Hilfe war das wichtig. Seiner Meinung nach war es vor allem Bequemlichkeit der Eltern und nicht deren Weltanschauung, wenn Sie den Widerständen ihrer Kleinen allzu bereitwillig nachgaben. Sicher, man konnte sich darüber unterhalten, ob dieser oder jene medizinische Einsatz notwendig war, aber wenn die Erwachsenen entschieden hatten, musste das ohne einen Einwand der Kinder, zumal dreijähriger, durchsetzbar sein. Denn, und das war die Crux, nicht immer ging es um Schnupfen oder eitrige Wunden, gelegentlich ging es um mehr. Er hatte schon Kinder ins Krankenhaus einweisen müssen, weil sie ein Antibiotikum nicht hatten einnehmen wollen und die Eltern sich nicht durchsetzen konnten.
Noch viel weniger mochte Anselm Kunze, wenn er sich dabei erwischte, wie er sich selbst die heimliche Frage stellte, was aus dieser Welt noch werden sollte. Diese verbrieft mehr als zweitausend Jahre alte Angst, die Welt in die Hände der Jüngeren zu geben, trieb schon Sokrates um. Sie war ein Armutszeugnis viel mehr für die Alten als für die Jungen. Also rezeptierte er kommentarlos den Saft statt der Zäpfchen.
Hausarzt Dr. Kunze wechselte das Sprechzimmer und begrüßte Gerhard Krone, Filialleiter seiner Hausbank, ein guter Bekannter und Patient.  Gerhard Krone und Anselm Kunze waren Männer im gleichen Alter, aber der Bankkaufmann wirkte dynamischer und voller Leben, gelegentlich war allerdings auch das Gegenteil der Fall. Anselm Kunzes Gefühlswelt glich einem Plateau, manchmal beneidete er Gerhard Krone um dessen Höhen, natürlich nicht um seine Tiefen und keinesfalls um seine Leibesfülle.
„Anselm, du musst mir helfen. Bei mir ist eine Grippe im Anmarsch und in drei Tagen fliegen Traudl und ich in die Domrep.  Ich brauche ein Antibiotika. Du weißt doch, dieses Zeug da, was sogar die Bundesregierung einlagert, wenn die Schweine- oder Vogelgrippe droht!“
Gerd Krone lachte aufgeräumt, schwärmte wortreich vom bevorstehenden Tauchurlaub in der Karibik und den abendlichen Genüssen, was Meeresfrüchte und Cocktails betraf. Hausarzt Dr. Kunze lehnte sich zurück und atmete tief durch.
Das Anliegen seines Freundes war haarsträubend. Was machte die moderne Kommunikation nur aus dieser Welt? Da saß ein gebildeter Mann vor ihm, der in seinem Beruf einiges erreicht hatte und redete medizinisch gesehen kompletten Unsinn, bei obendrein fragwürdiger Lebenseinstellung. Eine Grippe war im Anmarsch. Was er meinte, war eine Erkältung mit Schnupfen, Halsschmerzen und möglicherweise Husten. Das war allenfalls ein grippeähnlicher Infekt, von einer echten Grippe konnte keine Rede sein. Für deren „Anmarsch“ gab es nicht den Hauch eines Verdachts. Eine Grippe war ein heftiger Infekt mit schlagartig heftigen Symptomen. Eine Grippe haute einen sozusagen um. Aber der Freund saß reichlich munter vor ihm. Sei es drum, dachte der Hausarzt, so sprach der Volksmund.
Dann war da noch die Ansicht, die Medizin könnte innerhalb von drei Tagen etwas gegen eine drohende oder bereits manifeste Erkältung, Grippe oder dergleichen ausrichten. In diesem Punkt galt, entgegen aller Meldungen in Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet, noch immer die alte Wahrheit, dass eine Erkältung mit ärztlicher Behandlung eine Woche dauerte und ohne sieben Tage. Was eine echte Grippe betraf, machten sich die Leute nicht klar, dass deren Auswirkungen über Monate andauern konnten.
Ein Antibiotika. Das war wie „ein Häuser“ oder „ein Autos“. Die Einzahl von Antibiotika war und blieb Antibiotikum, aber vielleicht gehörte das auch in den Bereich von Besserwisserei, einer der Lieblingscharakterzüge von Ärzten und so klugen Menschen wie Bastian Sick, der behauptete, dass der Dativ dem Genitiv sein Tod sei. Dann war da noch das „Zeug“ gegen Schweine- und Vogelgrippe, was die Bundesregierung für den Fall einer Grippeepidemie einlagerte. Tamiflu hieß das Mittel und war weder ein Antibiotika, noch ein Antibiotikum, sondern ein Virustatikum, also eine Mittel gegen Virusinfektionen, nicht gegen bakterielle Entzündungen. Als Virustatikum besaß es eine gewisse Berechtigung im Kampf gegen Viren, also auch gegen Grippeviren. Allerdings galt das, wenn überhaupt, nur im Falle der korrekten Einnahme und die begann am Tag der ersten Symptome, besser noch einen Tag vor der Infektion, was grundsätzlich eher einer Hoffnung entsprach als Wissen. Im Falle von Gerhard Krone war die Einnahme dieses Mittels kompletter Unsinn, zumal mit einigen Nebenwirkungen verbunden.
Vom Medizinischen ganz abgesehen verkniff sich Anselm Kunze hörbare Gedanken zu Kürzeln wie Malle für Mallorca und Domrep für die Dominikanische Republik. Sein Wartezimmer war voll besetzt und außerdem war das ganz bestimmt Besserwisserei.
Der Hausarzt tippte auf seiner Tastatur eine Rezeptur und legte ein Privatrezept in den Druckerschacht. Gerhard Krone erzählte weiter von Korallen und Langusten. Schließlich druckte der hausärztliche Freund das Rezept aus, unterschrieb es und reichte es seinem Gegenüber.
„Hier! Steht alles drauf, Gerd. Ich wünsche euch einen tollen Urlaub. Grüß Traudl herzlich von mir.“
„Ich danke dir, mein Freund. Schöne Grüße auch an deine Frau. Ich erzähl dir hinterher mal, wie es war. Ciao.“
Und weg war Filialleiter Gerhard Krone mit italienischem Gruß in Richtung spanischsprachiges Land. – Nicht ganz. – Sein Kopf tauchte noch einmal in der Tür auf. Das Rezept flatterte im Türspalt.
„Was soll das heißen? ‚Drei Tage ruhen. Früh schlafen gehen. Vitaminreiche Kost. Viel trinken, aber auf Alkohol verzichten. Vor allem – nicht rauchen! Bei Bedarf eine Aspirin. Die ersten Tage in der Dominikanischen Republik ruhig angehen lassen.‘ Mehr hast du nicht zu bieten? Ich dachte, du…“
„Das ist alles, was du brauchst, glaub mir und vor allem – das ist alles, was es gibt. Auch wenn man anderes liest und hört.“
„Aber…“
„Schöne Reise wünsche ich euch.“
„Du bist unmöglich.“
„Wie lange schon?“
„Schon immer.“
„Warum wechselst du nicht deinen Hausarzt?“
„So unmöglich bist du nun auch wieder nicht.“
Gerhard Krone zwinkerte ihm zu und fügte mit theatralisch erhobener Faust hinzu:
„Mach’s gut, Desperado. Kämpfe weiter für eine bessere Welt. Ich gönne mir derweil einen Cuba libre und trinke auf dich.“
Anselm Kunze lachte und ballte ebenfalls die Faust, schwenkte sie in Richtung seines Freundes, so dass dieser mit gespielter Angst verschwand.
Cuba libre – freies Kuba, ein Cocktail zu Ehren der Befreiung Kubas von Spanien. Das war nicht unpassend, immerhin lag Kuba nicht weit von der Dominikanischen Republik entfernt. Allerdings befreite sich Kuba von Spanien zum Preis der Unterwerfung unter die USA, deswegen hieß dieser Drink auch gelegentlich Mentirita – die kleine Lüge.
Dr. Kunze schüttelte den Kopf. Ja, ja, er war Arzt und – Besserwisser.

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