leuchtspuren

letztes jahr hatte ich eine anfrage der hiesigen kinderklinik, ob ich jamie einmal in der woche untersuchen könnte, auch wenn dieser mal nicht  krank ist. dem stimme ich immer zu, denn dies wird meist als auflage gesetzt, wenn der verdacht oder die bestätigung einer vernachlässigung oder kindesmisshandlung vorliegt.

jamie (2 jahre) hatte mit seinem bruder im kinderzimmer gespielt, die mutter hörte plötzlich ein schreien und fand den jungen weinend vor, sah eine schwellung am oberschenkel, ging in die klinik, und dort wurde eine proximale oberschenkelfraktur festgestellt. die unfallchirurgen fanden noch andere zeichen einer möglichen misshandlung (evtl. kleine narben durch verbrennungen mit zigaretten) und übergab „die sache“ der kinderklinik. der ablauf ist dann in der regel immer der gleiche: einschalten des jugendamtes (nennt sich jetzt sozialer dienst), der familienhilfe und – aber nur in sehr seltenen fällen – der polizei. es wird ein „deal“ ausgehandelt, meist mit der auflage, das kind regelmäßig einem arzt vorzustellen, und einer aufsicht durch die familienhilfe zuzustimmen. es gibt sicher auch extremere fälle, in denen die kinder sofort in die obhut einer pflegefamilie gehen, aber dies sind glücklicherweise die ausnahmen.

im verhalten der eltern zeigen sich meistens zwei typische verhaltensmuster: die kompletten ablehner und die zustimmer. die eltern, welche den oben genannten auflagen skeptisch gegenüber stehen, diese ablehnen gar, brauchen meist noch größeres augenmerk. es gibt eltern, die sehr aggressiv den verdacht der misshandlung von sich weisen, leider meist die, die auch sich auch sonst – z.B. ihren kinder gegenüber – aggressiv verhalten. selbstredend gibt es auch familien, bei denen der verdacht ausgesprochen wurde, aber tatsächlich nur ein unfall vorlag, diese eltern akzeptieren aber in der regel die auflagen, vernünftig genug zu wissen, dass die klinik und das amt seiner aufsichtspflicht auch nur aufgrund eines verdachtes nachkommen muss.

die zustimmer der oben genannten auflagen kommen aus dieser gruppe, oder es sind familien, die diese auflagen auch sogar dankbar annehmen. oft entstehen vernachlässigung und auch mißhandlung aus einem stress- oder druckzustand in der familie. schlechte soziale verhältnisse, junge eltern, unvermögen und ohnmacht, mit den belastungen einer familie umgehen zu können. auch eigene mißhandlungserfahrungen oder andere psychische erkrankungen können eine rolle spielen. aber das sind nicht die vertuscher. diese nehmen die hilfen gerne an, sehen sie doch darin auch eine chance, dem dilemma zu entfliehen.

wir kinderärzte können nicht hinter die familien schauen, wir können nur kleine leuchtspuren setzen, ohne oft das ganze bild zu erhellen. aufgabe ist es, körperliche und seelische schäden frühzeitig zu erkennen. ämter werden von haus aus zunächst skeptisch gesehen, kinderärzte sind vertrauenspersonen, es gilt, den kontakt zu halten und der arzt des vertrauens zu bleiben. denn ein arztwechsel ist der häufigste grund einer vertuschung. aber durch das wiederholte vorstellen in der arztpraxis und den regelmäßigen besuchen durch die familienhilfe entsteht weniger ein kontrolletti, denn eine ritualisierung, eine strukturierung des wochenablaufes, die für viele familien alleine schon eine hilfreiche orientierung bedeutet.

aber das gelingt natürlich nicht immer.

jamies mutter stellte ihn sehr regelmäßig vor – stets mit der familienhelferin im schlepptau – „kinderdok, sie kennen mich doch gut, denken sie, ich würde zigaretten auf meinem kind ausdrücken? und dieser sturz – so etwas passiert doch ständig bei kindern.“ — nun gut. nach einer gewissen zeit haben wir die untersuchungen weiter gesteckt, bisher seit einem halben jahr keine weiteren „probleme“, auch wenn laut familienhelferin die situation zuhause recht angespannt wirkt, der junge auch stets von ihr als ängstlich geschildert wird.

wir werden sehen.

die pressemeldungen über getötete kinder, über verhungerte kinder, sind erschreckend und nicht verzeihlich. doch es sind die nicht veröffentlichten, die uns beschäftigen, in jeder kinderarztpraxis, für die es gespür für die kinder braucht, für die familien und vor allem auch für die kleinen zeichen, die auf eine vernachlässigung hinweisen.

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