Was in dieser Nacht geschah (Teil 5)

Und dann starre ich auf das Röntgenbild.
„Ist wirklich nichts gebrochen?“ fragt Jenny ängstlich.
Traumatologische Röntgenbilder waren noch nie meine Stärke. Verdammt nochmal, ich bin kein Chirurg und außer Sarah ist momentan kein weiterer Arzt an Bord. ..
„Ich kann keine Fraktur sehen!“ sage ich.
„Und was habe ich dann? Kriege ich wenigstens einen Gips?“
Ich nicke zustimmend, kritzele etwas auf ein Behandlungsblatt und reiche dasselbe an Schwester Anna weiter.
„Frohes Neues Jahr übrigens!“ sagt die.
„Ist es schon soweit?“
Das ist kaum zu überhören. Draußen wird gekracht und geböllert und auf dem Balkon riecht es riecht es ziemlich nach Bürgerkrieg. Irgendwer hat ne Flasche Sekt dabei und gemeinsam stoßen wir an.
Sarah strahlt.
„Ist echt lieb von Dir, dass Du noch vorbeigekommen bist!“ sagt sie, „von mir aus hätte ich Dein Angebot ja niemals angenommen…“
Angebot?
Ich starre sie an.
„…ich meine, gestern früh, als Du gesagt hast, ich könne Dich ruhig anrufen, falls Not am Mann sein sollte..“
Ach so. Ja. Ich erinnere mich. Da war was.
„…aber jetzt lass uns gleich mal wieder loslegen!“ sagt Schwester Anna und reicht mir ein Behandlungsblatt.
Gedankenverloren nehme ich es in die Hand und gehe dann in den Gipsraum.
Da sitzt Jenny, teilweise entkleidet auf der Behandlungsliege.
„Wenn Du glaubst, dass das unbedingt notwendig ist…“ meint Schwester Gaby, wirft mir einen genervten Blick zu und sagt dann leise, nur für meine Ohren bestimmt: „Der fehlt doch rein gar nichts!“
Ich antworte nicht und werde ein wenig rot.
Jenny leidet.
„Ich hab Dich vermisst!“ sagt sie in vorwurfsvollem Ton und ich merke, dass ihre Zunge schwer ist. Bis vorhin war mir das gar nicht aufgefallen. Sie streckt mir ihre Hand entgegen.
Ich nehme die Hand und setze mich zu Jenny auf die Untersuchungsliege.
Schwester Gaby hat ihr Werk beendet und verläßt mit einem vielsagenden Blick den Raum.
„Magst Du mich nicht ein wenig trösten?“ flüstert Jenny mir ins Ohr und in der nächsten Sekunde spüre ich wieder ihre Lippen auf den Meinigen und dann…. dann fliegt plötzlich die Tür auf.
„Tschuldigung, ich wollte Euch nicht stören!“ sagt Sarah, „Ich dachte nur… ich dachte, Du wolltest uns ein wenig helfen…“
Ich springe auf.
„Selbstverständlich helfe ich Euch!“
Sarah wirft mir einen unterkühlten Blick zu.
„Brauchst Du aber nicht. Wirklich nicht. Ich meine…“
Schwester Gaby ist zurückgekommen. Sie wirkt nervös und fixiert Sarah und mich.
„Könnt Ihr beide bitte sofort in den Schockraum kommen?“, und dann, zu Jenny gewandt: „Alles in Ordnung bei Dir, Du kannst jetzt heimgehen!“
„Aber…“
„Wenn Du möchtest, gebe ich Dir noch etwas gegen die Schmerzen. Und jetzt geh bitte…“
Sie drängt Jenny zur Tür und schiebt Sarah und mich in die andere Richtung.
„Was ist denn los?“ frage ich.
„Schwerer Verkehrsunfall. Polytrauma. Rettungswagen mit Notarzt ist im Anmarsch. Oberarzt auch schon informiert.“
Wenn ich gewusst hätte, was mich jetzt erwartet, ich wäre vor Scham im Boden versunken.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *