Dr. Kunze hört (nicht) auf 20

Februar 2010
Dr. Kunze ist krank
Hausarzt Dr. med. Anselm Kunze erwachte, noch bevor der Wecker klingelte. Sein Kopf schmerzte, er bekam keine Luft durch die Nase, und er fror. Es war halb sechs und noch eine knappe halbe Stunde, bis der Signalton erklang. Er stand auf. Er musste aufs Klo, brauchte eine Aspirin und etwas für die Nase. Im Badezimmer fand er die Tabletten auf Anhieb, aber das Nasenspray war nicht da. Anselm Kunze fluchte leise und versuchte eine Nasenspülung mit Leitungswasser. Aber es funktionierte nicht. Wie sollte er Wasser durch die Nase einziehen, wenn schon keine Luft durchging? Er ging zurück ins Schlafzimmer, legte sich wieder ins Bett und hoffte, dass die Medizin bald wirkte. Er atmete mit offenem Mund, er zitterte am ganzen Leib und seine Rachenschleimhaut trocknete aus.
So lag er eine Weile, stöhnte leise mit jedem Atemzug und  – bedauerte sich. Selten erwischte ihn ein Virus, aber wenn es alle paar Jahre soweit war, fühlte er sich richtig schlapp und wie gerädert. Am liebsten wollte er seine Frau wecken und sie bitten, ihm ein Nasenspray aus der Praxis zu holen. In seinem Schrank für Medikamentenmuster stand genug. Er hasste es, durch den Mund zu atmen. Seine Frau würde ihm bestimmt den Gefallen tun, aber es war sinnlos, er musste selbst bald in die Praxis. Bis mittags war der Terminkalender voll, dazu kamen die Patienten, die nicht eingeplant waren.
Es hatte keinen Sinn liegen zu bleiben. Mit Kopfschmerzen und behinderter Nasenatmung konnte er doch nicht wieder einschlafen, außerdem hatte er sowieso nur noch eine halbe Stunde. Er stand wieder auf und ging zur Morgentoilette ins Bad. Er kam nur langsam voran. Zwischendurch wurde ihm schwindelig, sodass er sich auf den Badewannenrand setzen musste, um nicht umzukippen.
Als er endlich soweit war, sich die Strümpfe anzuziehen, bückte er sich und spürte sofort einen höllischen Schmerz über den Augen. Er kam wieder hoch, klopfte behutsam mit dem Knöchel des Zeigefingers gegen die Stirn und spürte denselben Schmerz. Stirnhöhlenvereiterung – diagnostizierte er im Stillen, im Rahmen eines grippalen Infektes. Aspirin und Nasenspray würden nicht ausreichen. Er brauchte ein Antibiotikum, vor allem wenn er schnell wieder fit sein wollte. Ihm war klar, dass er als Mann besonders litt, aber die Erkenntnis half nicht weiter. Wie oft hatte er den Eintrag männliche Grippe lässig in die Karteikarte getippt oder Erkältung, maskulin verstärkt. Aber jetzt war ihm nicht danach, über leidende Männer zu scherzen. Er litt wirklich.
„Herrgott, du siehst ja aus wie der Tod“, begrüßte ihn seine Frau, als er sich endlich an den Frühstückstisch setzte, den sie inzwischen längst gedeckt hatte.
„Was ist mit dir?“
Während er es ihr erklärte, sah sie seine trüben, wässrigen Augen und seine sonst glatte Stirn in tiefen Falten liegen. Jeder fragende Blick war überflüssig.
„Dann bleibst du zu Hause. Ich rufe Christine an. Sie soll alle Patienten nach Hause schicken oder zu Dr. Börner.“
„Das geht nicht.“
„Warum nicht? Du bist nicht der einzige Arzt auf der Welt!“
„Das weiß ich, aber Frau Giese wollte heute mit mir über den Tod ihres Mannes sprechen. Bei dem kleinen Tim Barthold hatte ich gestern Abend ein ganz schlechtes Gefühl. Vielleicht ist es doch der Blinddarm. Und der alte Herr Wense braucht sein Morphium. Er stirbt. Er hat Schmerzen. Er wollte mir gestern noch etwas sagen, aber er war zu schwach. Ehepaar Rinke kommt zum Paargespräch, er geht doch zu keinem Psychologen. Wenn überhaupt, redet er nur mit mir. Außerdem ist das Untersuchungsergebnis von Frau Schmedts Probe aus der Brust da. Du weißt doch, die nette Kindergärtnerin, die ich schon behandelt habe, als sie selbst noch in den Kindergarten ging. Es ist Krebs.“
„Ja, ja, ich weiß. Aber du bist krank und könntest selbst Hilfe gebrauchen. Aber mach, was du willst. Machst du ja sowieso. An einem Tag willst du ganz aufhören mit der Praxis, am nächsten schleppst du dich mit Fieber hin und steckst deine Patienten an. Das soll einer verstehen.“
„Glaubst du, ich habe Fieber?“
„Du glühst. Befühl doch mal deine Stirn“, forderte sie ihn auf.
Seine Frau hatte Recht. Er sollte zu Hause bleiben. Es würde auch ohne ihn gehen – gehen müssen. Wie würde es erst sein, wenn er ganz aufhörte? Aber wenn er ehrlich genug zu sich selbst war, wusste er, wie es gehen würde. Die Patienten würden ihm ein paar Tage nachtrauern, einige ein paar Wochen, vereinzelte auch ein paar Monate. Aber im Großen und Ganzen würde der Alltag nach dem Motto laufen: Der König ist tot, es lebe der König. Warum sollte er also nicht ein, zwei Tage zu Hause bleiben und sich auskurieren. Jedem seiner Patienten hätte er genau das geraten.
Das Telefon klingelte. Seine Frau nahm den Anruf entgegen. Frau Wense war am Apparat. Frau Kunze hielt die Muschel zu und sah zu ihrem Mann.
„Frau Wense. Ihr Mann ist in der Nacht gestorben.“
„Sag ihr, ich komme.“
Frau Kunze gab die Antwort leise weiter, während sich ihr Mann ins Bad schleppte, um sich die Zähne zu putzen. Leichenschau und Totenschein ausfüllen, diese letzte Pflicht konnte er unmöglich einem Fremden überlassen. Womöglich kam irgendein herzloser Holzklotz von Arztkollege ins Haus und ärgerte sich darüber, dass Herr Wense noch vor Beginn der Sprechstunde gestorben war. Außerdem ging es ihm mit langjährigen Patienten wie mit verstorbenen Verwandten oder Bekannten: Er konnte sich besser vorstellen, dass sie nicht mehr lebten, wenn er ihre Leiche gesehen hatte.
Im Hausflur schlang er sich einen Schal um den Hals, obwohl sich draußen wieder ein warmer Sonnentag ankündigte. Der Hausarzt setzte sich hinter das Steuer seines Wagens und verschnaufte einen Augenblick. Er war erschöpft vom Gang die Treppe hinunter in die Garage. Als erstes musste er in die Apotheke am Rathaus, die öffnete schon vor sieben Uhr und lag im Gegensatz zu seiner Praxis auf dem Weg . Er brauchte unbedingt Nasenspray. Die Entscheidung, nicht in die Praxis zu gehen, war nach dem Anruf von Frau Wense hinfällig. Jetzt war er einmal unterwegs und irgendwie würde es schon gehen.
Eine gute halbe Stunde später rief Frau Wense ein zweites Mal an und versetzte damit der Ehefrau des Hausarztes einen Schrecken.
„Aber mein Mann ist schon vor geraumer Zeit losgefahren, er müsste längst bei Ihnen sein. Hoffentlich hatte er keinen Unfall, ihm ging es nämlich nicht gut, wissen Sie?“
„Nein, nein. Er hatte keinen Unfall. Er sitzt hier bei mir. Das heißt, er liegt hier bei mir auf dem Sofa. Er zittert am ganzen Körper und seine Stirn ist heiß. Er kann unmöglich selbst weiter Auto fahren. Können Sie ihn abholen? Ich habe keinen Führerschein, ich würde ihn sonst bringen.“
Bevor Frau Kunze zu den Schlüsseln ihres Wagens griff, rief sie Christine in der Praxis an. In fünf Minuten sollte die Sprechstunde beginnen. Es gab allerhand zu organisieren, wenn der Hausarzt die restlichen drei Tage der Woche nicht praktizieren würde. Sie nahm ihr Mobiltelefon mit in den Wagen, steckte es in Freisprechanlage und rief den hausärztlichen Kollegen Dr. Börner an, das hatte sie mit Christine abgesprochen.
Als Anselm Kunze wieder in seinem Bett lag, war er nicht in der Lage, gegen die organisatorischen Maßnahmen seiner Frau und seiner Arzthelferin Einspruch zu erheben. Er war müde, hatte Kopfschmerzen und ihm war kalt und heiß zu gleich. Im Laufe des nächsten Nachmittags, am Donnerstag, besserte sich sein Zustand. Aber er war froh, dass seine Frau die Sprechstunde gleich für den Rest der Woche abgesagt hatte. Im Bett zu liegen, ab und zu eine Tasse Tee und etwas Obst gereicht zu bekommen, war eine Wohltat. Wenn der Druck in seinem Schädel weiter abnahm, würde er am nächsten Tag vielleicht lesen können.
Eines wurde Hausarzt Dr. med. Kunze in diesen Tagen jedenfalls klar: Seine Empfehlung an die Patienten, im Falle einer Krankheit vor allem Ruhe zu halten, war absolut richtig.

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