Teil 3 Ein ausführliches Beispiel
In heutigen Artikel soll die Odyssee von Patienten mit einer bestimmten Beschwerde durchgespielt werden. Ein Symptom als Beispiel für viele: Der Schwindel.
Schwindel ist ein typisches Beispiel dafür, wie ein Symptom (Krankheitszeichen) zur Diagnose wird. Schwindel ist als Gleichgewichtsdefekt nichts anderes als Schmerz, Fieber, Husten, Blähungen oder Verstopfung, also ein Symptom zu dem erst noch eine Diagnose gefunden werden muss. Die Frage lautet also: Liegt dem Schwindel ein Innenohrschaden zu Grunde, eine Blockade der Halswirbelsäule, eine Durchblutungsstörung des Kopfes, ein Gehirntumor oder, oder, oder?
Ist eine Diagnose zwingend erforderlich?
Muss man die Ursache des Schwindels wirklich erforschen? Schwindel ist ein gutes Beispiel dafür, wie Diagnosesicherung schaden kann, wie sich Ärzte die Zähne daran ausbeißen, sie verzweifeln und sich sogar in ihrer Ehre gekränkt fühlen. All das klingt gar nicht gut und geht meist zu Lasten des Patienten.
Der Fall
Eine Patientin kommt zum Hausarzt, sie beklagt einen starken Schwankschwindel, der sich vor allem beim Lagewechsel bemerkbar macht. Die Beschwerden bestehen seit etwa einer Woche. Die Patientin ist Mitte vierzig, ihre Krankengeschichte weist bis auf Bagatellerkrankungen, dazu drei Krankenhausaufenthalte zur Geburt ihrer gesunden Kinder, nichts Besonderes auf. Sie erwähnt auf Nachfrage, dass eine Freundin von früher an einem Gehirntumor gestorben ist. Außerdem hat sie im Internet gelesen, dass Multiple Sklerose mit Schwindel beginnen kann.
Wenn man den Grundsatz walten lässt: Das Häufige ist häufig und das Seltene selten, würde man hier als Hausarzt zunächst mal eine typische psychosomatische Reaktion feststellen. Zumal im weiteren Gespräch herauskommt, dass der Ehemann der Patientin seinen Arbeitsplatz verloren hat. Stress und Sorge sind eine gute Grundlage für einen Schwindel.
Wie geht es weiter?
An dieser Stelle eröffnen sich unzählige Wege, wie es weitergehen kann.
- Der Hausarzt untersucht die Patientin, stellt einen niedrigen Blutdruck fest und ist in der Lage, die Patientin mit diesem Zwischenergebnis zu beruhigen. Er bestellt sie zur kurzfristigen Kontrolle eine Woche später wieder ein.
- Die Frau kann von dem Gedanken einer schweren Krankheit nicht loslassen und fordert ein CT des Kopfes und/oder eine fachneurologische Untersuchung
- Die Patientin fordert zwar keine weitergehenden Untersuchungen, aber der Arzt fühlt sich damit sicherer
- In den Augen der Patientin ist der Hausarzt zu oberflächlich. Sie verabschiedet sich zwar freundlich, ist aber entschlossen ohne Überweisungsschein zum Facharzt zu gehen.
Dies wären ein paar ausgewählte Varianten, die jeweils wieder in unzähligen Variationen münden können.
Varianten zu 1.)
- Der Schwindel ist zwar hartnäckig, aber nach zwei weiteren Arztkontakten, einmal mit einer Rezeptur eines harmlosen Medikaments, klingen die Beschwerden nach und nach wieder ab.
- Am Wochenende wird der Schwindel so stark, dass der hausärztliche Notdienst gerufen wird. Der diensthabende Arzt befragt und untersucht die Patientin kurz, und… (ab hier wieder jede Menge Varianten. Die bevorzugte heutzutage ist: Was? Mehr hat ihr Hausarzt nicht unternommen? Kommen Sie nach dem Wochenende mal in meine Praxis.)
- Die Patientin trifft eine befreundete Masseurin auf der Straße, die ganz unbedingt überzeugt ist, von der Wichtigkeit einiger Massagebehandlungen
- Die Patienten schaltet die Sendung „Visite“ ein und ist am Ende der Sendung überzeugt unter Anzeichen eines Schlaganfalls zu leiden
- Die Krankenkasse leitet auf Initiative des Arbeitgeber der Patientin eine gutachterliche Stellungnahme in die Wege. Das Ergebnis lautet auf Deutsch übersetzt: … (hier gibt es wieder mehrere Varianten) Ohne fachärztliche Diagnostik ist dieser Fall eine einzige Schlamperei. Der Hausarzt wird zur HNO-ärztlichen und neurologischen Überweisung aufgefordert.
- Die Varianten ließen sich in einer langen Reihe weiterführen, von der Lektüre der Frau im Spiegel, bis zum Friseurgespräch, dem Apothekerrat u.v.a.m.
Varianten zu 2. (und 3. bzw. 4.)
An dieser Stelle soll ein wenig zusammengefasst werden, sonst wird dieser Artikel buchfüllend:
- Ein durchgeführtes CCT (craniales Computertomogramm) ist unauffällig und die Patientin beruhigt. Damit ist die Sache erledigt. Sehr unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist…
- das CCT ist unauffällig, aber der Radiologe schlägt zur Sicherheit ein MRT des Kopfes vor (Magnetresonanztomogramm=Kernspintomogramm) vor. Sonst lässt sich ein Tumor oder ein Schlaganfall nicht mit Sicherheit ausschließen. Versuchen Sie mal als Hausarzt gegen eine solche Empfehlung anzureden. In aller Regel beißen Sie sich die Zähne aus. Der Floh ist sozusagen ins Ohr gesetzt. (Siehe Artikelserie Wer fängt an?)
- Das MRT zeigt eine chron. Nasennebenhöhlenentzündung. Zu diesem Zeitpunkt wird erstmals eine veritable Diagnose gestellt, allerdings zum falschen Symptom. Jetzt geht‘s zum HNO-Arzt. Können Sie sich die Varianten vorstellen?
- Das MRT zeigt ein erweitertes Ventrikelsystem (Hohlräume für das Gehirnwasser). Ab jetzt ist alle Vierteljahre ein MRT fällig, weil eine Zunahme der Erweiterung ausgeschlossen werden muss, obwohl im Prinzip klar ist, dass die Patientin damit geboren wurde.
- Der Neurologe misst den Blutfluss in den vorderen und hinteren Halsschlagadern. Er stellt eine minimale Carotisstenose fest (Genaueres s. hier) und überweist die Patientin zum Angiologen (Gefäßspezialist). Ab hier wieder haufenweise Varianten. In diesem Fall sei es diese: Der Angiologe misst eine 20%igen Verschluss der linken Karotis ohne hämodynamische Bedeutung (keinen Einfluss auf den Blutstrom). Wahrscheinlich eine Variante der Natur, die kennt nämlich auch jede Menge Varianten.
Bis hierher soll das Beispiel getrieben werden, ausführlich genug und doch nur ein kleiner Abriss des Komplexes: Schwindel.
Im nächsten Artikel soll beschrieben werden, wohin das Ganze führt.