“Komm mal aus der Opferrolle raus”

Vielleicht haben Sie schon einmal diese Aufforderung gehört: “Du musst mal aufhören, Dich immer als Opfer zu sehen.” Manche haben sie von einem Freund gehört, andere von einem Arzt, Heilpraktiker oder Therapeuten. Viel wird das nicht nützen. Nach der ersten Feststellung, dass man sich möglicherweise wirklich oft in die Position eines Opfers begibt, macht sich Ärger breit. (Text: © Dunja Voos, Bild: © Sokaeiko, Pixelio)

Laienpsychologie

Wenn Sie oft in der Rolle des “armen Menschen” oder des “Opfers” sind, dann haben Sie dafür sehr wahrscheinlich Ihre Gründe. Die Aufforderung, einmal aus der Opferrolle auszusteigen, ist gut gemeint, aber meistens nicht mehr als ein laienpsychologischer Ausdruck. Wieso kann der eine, der scheinbar nur geringe Probleme hat, nur jammern, während der andere seine Welt positiv sieht, obwohl er es von außen betrachtet schwerer im Leben hat?

Am Anfang war die Beziehung

Am Anfang des Lebens steht die enge Beziehung zu den Eltern. Und von dieser frühen Beziehung hängt unser weiteres Leben entscheidend ab. Wenn Mutter und Vater ihr Kind nicht überwiegend wohlwollend anblicken, wenn sie nicht ausreichend zur Verfügung stehen oder gar das Kind missbrauchen und gewalttätig strafen, dann leidet das Kind unter einer großen inneren Einsamkeit. Die Narben, die dann in der Kindheit entstehen, sind von außen betrachtet oft gar nicht sichtbar. Aber dennoch arbeitet das Erlebte weiter.

Fehlende Zeugen, fehlendes Mitleid

Es gibt Kinder, denen subtil oder offen sehr großes Leid geschieht. Wenn sie keine verlässliche Bezugsperson um sich herum finden, dann gelingt es ihnen nur noch schwer, die Welt rosig zu sehen. Möglicherweise hat ein Kind ein Trauma erlitten, über das es erst jahrzehnte später sprechen kann. Niemand ist da, dem es sich anvertrauen kann. Und so trägt es ein trauriges Geheimnis mit sich herum, von dem niemand etwas ahnt. Manchmal geschieht es sogar, dass das Opfer-Kind selbst seine Erinnerungen und den Schmerz abspaltet. Aber die Sehnsucht nach Mitgefühl und Aufgefangenwerden bleibt. Das kann zur Folge haben, dass sich dieses Kind zu einem Erwachsenen entwickelt, der versucht, sich das Mitleid “abzuholen”, das er tatsächlich verdient hat. Allerdings erscheint es anderen – und auch dem Betroffenen selbst – oft absurd, dass es scheinbar immer einen Grund zum Jammern gibt.

Erst eine gute Therapie bringt die Lösung

Oftmals wendet sich das Blatt erst in einer psychoanalytischen Therapie. Erst, wenn der Betroffene ausreichend Vertrauen zum Therapeuten gefasst hat (und das kann Jahre dauern), gelingt es ihm, sein Trauma wieder an die Oberfläche zu holen. Erst dann findet der Betroffene auf einmal einen Ansprechpartner, einen Zuhörer und einen nachträglichen Zeugen. Mit der Offenbarung des Erlebten erfährt der Patient endlich den Trost, den er immer gesucht hat.

Auf einmal ist alles anders

Betroffene, die ihr Trauma mit einem qualifizierten Therapeuten bearbeiten können, ändern sich oft plötzlich sehr. Sie treten wortwörtlich aus der Opferrolle heraus und versuchen nicht mehr, das “arme Würmchen” zu spielen. Der Betroffene findet eine neue Mitte. Er muss nicht länger zwischen dem Opfer- und Tätersein hin- und herpendeln. Denn allzuleicht wird ein Opfer auch zum Täter, wenn ihm nicht geholfen wird. Und wenn das Opfer nicht “offen” zum Täter wird, dann richtet es seine Aggressionen gegen sich selbst. Ängste, Depressionen, Unfälle, Arbeitsplatzverlust, Scheidung und vieles mehr kann aus solch einer Autoaggression entstehen. Auch Operationen, die gar nicht nötig wären, lassen diese Opfer über sich ergehen. Somit sind sie erneut Opfer. Aber auch Täter gegen sich selbst. Sie spüren die Wut gegen das Geschehene und schämen sich für ihre Aggressionen. Sie fühlen sich schuldig für eigene aggressive Regungen und möchten sich selbst dann bestrafen, um ihr Schuldgefühl loszuwerden. Erneut werden sie dann zum Opfer. Wird dieser Kreislauf durch eine gelungene Therapie durchbrochen, ändert sich für den Betroffenen und auch für seine Umwelt häufig sehr viel.

Erlernte Hilflosigkeit und so weiter

Oberflächlich gesehen gibt es für die Opferrolle viele Erklärungsmodelle. Eines ist das der “erlernten Hilflosigkeit” – ein Modell, das der amerikanische Psychologe Martin Seligman beschrieben hat. Hiernach verstärkt sich hilfloses Verhalten wie ein Selbstläufer. Wer sich einmal hilflos stellt, dem wollen viele andere helfen. Das kann vordergründig ein “Gewinn” sein, doch diese “Hilflosigkeit” ruft auch großen Ärger hervor, da der Betroffene nicht mehr ernst genommen wird. Die erlernte Hilflosigkeit ist wie ein “sekundärer Krankheitsgewinn”. Natürlich ist es schön, wenn ein anderer für mich die Busfahrkarte zieht. Es schwächt jedoch auch mein Selbstwertgefühl und macht mich alltagsuntauglich, falls ich zu oft Hilfe suche. Auch, wenn dieses Konzept logisch klingt – für viele Menschen in der “Opferrolle” ist das nur das äußerlich sichtbare Ergebnis eines inneren Kampfes, der vielleicht schon jahrelang geführt wurde. Bewusste Verhaltensänderungen können helfen, aber wirkliche Hilfe finden viele Betroffene nur, wenn sie sich auf die Suche nach dem Kern der Hilflosigkeit machen.

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