Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
inzwischen häufen sich auch im Gebiet unseres Regionalverbandes die MDK-Prüfungen und es wird deutlich, wie erschüttert sowohl Betriebsinhaber als auch Mitarbeiter über die Inhalte der Prüf- und Transparenzberichte sind. Während die Atmosphäre während der Prüfungen häufig als sehr konstruktiv, beratend und wertschätzend empfunden wird, nehmen Pflegekräfte und Inhaber die Prüf- und Transparenzberichte eher als barsche Ohrfeige wahr. Angesichts des enormen Drucks, der durch die flächendeckenden Prüfungen aufgebaut wird, möchte ich Sie darin bestärken, sich nicht frustrieren zu lassen. Auch wenn uns die Arbeit durch das unausgereifte Transparenzverfahren zurzeit erheblich erschwert wird, stehen doch die Pflegebedürftigen im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Lassen Sie sich davon bitte nicht abbringen! Sie sind mit Ihrer Meinung nicht alleine, wenn Sie die Veröffentlichung von „Schulnoten“ zunächst als Existenz bedrohend und Ihre Prüfergebnisse als absolut unfair empfinden. Das gesamte Verfahren wird zurzeit evaluiert und da es weder im Interesse der Pflegekassen noch im Interesse des MDS liegt, dass Klärungsprozesse in großer Zahl gerichtlich ausgetragen werden, bleibt zu hoffen, dass man sich der Schwachstellen des Systems annehmen und Veränderungen beschließen wird. Auch der DBfK hat bei der Erarbeitung der Transparenzvereinbarungen mitgewirkt. Allerdings bedeutet dies nicht, dass wir die bedrohlichen Auswirkungen in der Praxis übersehen oder uns scheuen, sie zu benennen. Ebenso wie wir im Rahmen des Pflegeprozesses gehalten sind, zu evaluieren, ob die von uns verordneten Maßnahmen zielführend sind und gegebenenfalls Veränderungen einzuleiten, so sind auch die Pflegetransparenzvereinbarungen dahingehend zu prüfen, ob sie geeignet sind, die vom Gesetzgeber formulierten Ziele zu erreichen. Sollte dies nicht der Fall sein, gilt es, das Verfahren entsprechend zu verändern.
Die Veröffentlichung von Prüfberichten – Transparenz für den Verbraucher?
Welche Ziele sollen den mit der Veröffentlichung der Prüfergebnisse erreicht werden? Zum einen soll die Qualitätsentwicklung in der stationären und ambulanten Pflege gefördert und auf der anderen Seite die Verbraucher über die Ergebnis- und Lebensqualität der Pflegebedürftigen informiert werden. Zeugen die bisherigen Erfahrungen davon, dass diese Ziele erreicht werden?
Widmen wir uns zunächst dem Ziel der Verbraucherinformation: In welchem Umfang potentielle Pflegebedürftige und deren Angehörige sich über die Prüfergebnisse informieren, kann noch nicht beurteilt werden. Von Verbraucher- und Betroffenenverbänden wird jedoch grundsätzlich die vom Gesetzgeber geforderte Transparenz hinsichtlich der Ergebnis- und Lebensqualität begrüßt. Die Frage ist allerdings: Geben die Transparenzberichte wirklich Auskunft über die Ergebnis- und Lebensqualität? Die Süddeutsche Zeitung hat die Transparenzberichte Münchner Pflegeheime recherchiert und kommt zu dem Schluss, dass es trotz wesentlicher Mängel in der Pflege zu guten Noten käme. Malu Dreyer, Gesundheitsministerin in Rheinland-Pfalz, hatte zunächst die Pflegekassen aufgefordert, auf eine Veröffentlichung zu verzichten, da sie erhebliche Zweifel daran hatte, dass die Transparenzberichte die tatsächliche Qualität von ambulanten Pflegediensten und stationären Einrichtungen abbilden würden. Sie sprach sich dafür aus, die Prüfgegenstände Dokumentationsarbeit und Pflegezustand klar voneinander abzugrenzen, um so der eigentlichen Pflege mehr Gewicht zu verleihen. Zu einer ähnlichen Einschätzung, was die Gewichtung der Dokumentation betrifft, kommt auch das Sozialgericht Münster im Zusammenhang mit seinem Beschluss vom 18.01.2010. Dort heißt es auszugsweise: „Auch wenn einzuräumen ist, (…) dass die vom MDK angewandten Prüfkriterien zum Teil auch auf die Erfassung von Ergebnis- und Lebensqualität zielen (…), so erscheint dennoch die von vielen Einrichtungen in ihren Kommentaren zu den bereits veröffentlichten Transparenzberichten geäußerte Kritik, vom MDK würden primär Dokumentationsdefizite festgestellt, nicht unberechtigt.“
Veröffentlichung von Prüfergebnissen – Förderung der Versorgungsqualität?
Und wie sieht es mit der Förderung der Pflegequalität aus? Welchen Beitrag leisten die aktuellen Prüf- und Veröffentlichungsverfahren? Aus zahlreichen Berichten von Betriebsinhabern, Pflegedienstleitungen und Pflegemitarbeitern geht hervor, dass der zentrale Impuls, der durch die Prüfberichte ausgelöst wird, der Impuls ist: Wir müssen mehr dokumentieren. Dazu ein Beispiel, welches ein Mitarbeiter eines ambulanten Pflegedienstes berichtet: „Bei unserem Pflegedienst wurde vom MDK bemängelt, dass die persönlichen Rituale und Gewohnheiten, vor allem bei der Ernährung nicht nachvollziehbar berücksichtigt und dokumentiert würden. Das verleitet die PDL dazu ein ganz neues Formular zu erfinden, das jetzt für alle PatientInnen ausgefüllt werden muss, auf dem wir beispielsweise zu Frühstück, Mittag- und Abendessen “Rituale und Gewohnheiten” zu dokumentieren haben; auch bei Patientinnen, die nur eine tägliche Insulininjektion bekommen und keine Hilfe bei der Ernährung benötigen.“ Auch dem Sozialgericht Münster scheint die qualitätsreduzierende Wirkung des aktuellen Prüfverfahrens nicht entgangen zu sein. In dem oben zitierten Beschluss heißt es unter anderem: „Zugegeben ist, dass die Ergebnis- und Lebensqualität schwer zu bemessen und Mängel in der Dokumentation leicht aufzuzeigen sind. Dies kann jedoch ein Bewertungssystem nicht rechtfertigen, das die Einrichtungen nötigt, auf Kosten ihrer eigentlichen Aufgabe noch mehr in die Dokumentation zu investieren.“
Pflege – eine Profession mit Rückgrat!
Aus unserer professionellen Sicht steht der pflegebedürftige Mensch in seiner Ganzheitlichkeit im Zentrum der Aufmerksamkeit. Unser Ziel in der Pflege ist die nachhaltige Förderung der Gesundheit, des Wohlbefindens und der Lebensqualität. Grundlage dafür ist der Aufbau einer fördernden Pflegebeziehung, in der der Mensch in seiner Individualität und Autonomie wertgeschätzt wird. Um dies unter Einbeziehung aller an der Versorgung beteiligten gewährleisten zu können, ist eine Dokumentation der ausgehandelten Pflegeziele, der vereinbarten Pflegeprioritäten sowie relevanter anamnestischer, biografischer und aktueller Informationen notwendig. Allerdings bedeutet es eine Abkehr von unserer Professionalität, wenn wir die Ganzheitlichkeit des Menschen in verrichtungsorientierte Segmente und Risikobereiche zersplittern und die Pflegedokumentation nicht mehr als Kommunikations- und Steuerungsinstrument verstehen, sondern lediglich als Hilfsmittel einer vermeintlichen Absicherung – gegen wen auch immer. Die Pflegedokumentation sollte Ausdruck unsere Professionalität sein. Aus ihr sollte hervorgehen, dass wir bewusst Prioritäten setzen, in der Lage sind, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, dass wir abwägen, kommunizieren und verhandeln und dass wir bereit sind, die Verantwortung für unsere fachlich fundierten Entscheidungen zu übernehmen.
Darum mein Appell an alle Kolleginnen und Kollegen: Lassen wir uns unsere Professionalität nicht durch die derzeitige Prüfwelle zerstören. Wir sind die Berufsgruppe, von der unsere Gesellschaft in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mehr als von fast jeder anderen Berufsgruppe abhängig sein wird. Die Gesellschaft wird es sich nicht auf Dauer leisten können, uns durch Frustration und Überlastung ins Burnout zu treiben. Wir sollten jetzt die Gelegenheit wahrnehmen, aus unserer Professionalität heraus zu kommunizieren, was Pflege ausmacht. Durch unser alltägliches Handeln – und nicht zuletzt durch unseren Umgang mit der aktuellern Prüfwelle – können wir zeigen, dass wir zu unserer Fachlichkeit stehen, dass wir Profis sind und Verantwortung übernehmen. Lassen wir uns nicht einschüchtern oder von unserem eigentlichen Pflegeauftrag ablenken!
Ein Wort an Betriebsinhaber und Leitungskräfte:
Es ist menschlich, den Druck, der durch die Qualitätsprüfungen zurzeit ausgeübt wird, an die Mitarbeiter weiterzugeben. Aber: Fachkräfte werden immer knapper. Auch aus unternehmerischer Sicht kann kaum ein Betrieb es sich leisten, den Druck direkt an die Mitarbeiter weiterzugeben. Es ist allseits bekannt, dass nicht alle verfügbaren Fachkräfte gleichermaßen qualifiziert sind, aber wir müssen mit dem leben, was wir haben und das Beste daraus machen. Das schließt ein, dass wir fürsorglich mit unseren Mitarbeitern umgehen, dass wir ihre Potentiale erkennen und stärken, dass wir ihnen zugestehen Fehler zu machen, um daraus zu lernen – und dass wir uns bezüglich des Drucks, der durch externe Prüfinstanzen ausgeübt wird, hinter sie stellen. Im Übrigen wertete das Sozialgericht Würzburg die Kündigung der pflegerischen Leitungskräfte im Anschluss an eine schlecht ausgefallene Qualitätsprüfung als gewichtiges Indiz für die „grundsätzliche und überwiegende Richtigkeit“ des vom MDK erstellten Prüfungsberichtes (S 14 P 7/10 ER).
Ein Wort an die Verantwortlichen aus Politik und Gesellschaft:
Angesichts der demografischen Entwicklung kann es sich unsere Gesellschaft unmöglich leisten, ein kollektives Burnout der Berufsgruppe der professionell Pflegenden zu riskieren. Deshalb müssen wir einen ehrlichen Diskurs darüber führen, was wir von stationärer und ambulanter Pflege erwarten und wer die Erfüllung dieser Erwartungen bereit ist zu bezahlen. Ein gesetzlich Versicherter hat Anspruch auf die medizinischen Leistungen, die seine Kasse bereit ist zu bezahlen. Will er neuere, bessere, teurere Medikamente oder eine First-Class-OP, muss er die Kosten selber tragen. Medizin nach dem Stand der Künste bedeutet also nicht, dass die neuste, beste, teuerste Diagnostik und Therapie anzuwenden ist. Ebenso kann Pflege nach dem Stand der Künste nicht die Anwendung aller Assessmentinstrumente und Interventionen bedeuten, nur weil diese bekannt und publiziert sind. Einrichtungen der professionellen Pflege können nur das Leistungsniveau anbieten, welches die durch die Kassen zugebilligten personellen Ressourcen erlauben. Man kann nicht gegenüber der Berufsgruppe der Pflegenden immer höhere Anforderungen an die Qualität und den Umfang der Leistungserbringung und deren Dokumentation stellen und andererseits die hierfür erforderlichen Ressourcen verweigern. Auf diese Weise werden die Pflegenden zwischen dem wirtschaftlichen Druck der Betreiber und den Qualitätsanforderungen der Kassen zermahlen. Der einzige nachhaltige Weg, diese Entwicklung aufzuhalten ist zum einen eine ehrliche öffentliche Diskussion über die Bezahlbarkeit von Qualität und zum anderen, der Berufsgruppe der Pflegenden die Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die zur Erreichung des vereinbarten Qualitätsniveaus erforderlich sind.
Ein Wort an die Pflegekassen und den MDK:
Die derzeitig üblichen Prüfberichte und Maßnahmenbescheide führen in den Pflegeeinrichtungen zu zunehmender Verwirrung und immer unübersichtlicheren Dokumentationen. Dies liegt offenbar daran, dass die Pflegedokumentation nicht mehr allein dem Zweck der Versorgungskontinuität und Pflegeprozesssteuerung dient, sondern zunehmend dem Nachweis der Erfüllung von Prüfkriterien. Diesem Prozess könnte dadurch entgegengewirkt werden, dass die Empfehlungen konkret und handlungsleitend sind und die individuellen Strukturen und Prozesse der Einrichtung berücksichtigen. Außerdem hätten die Pflegekassen durch individuell formulierte Maßnahmenbescheide die Gelegenheit, selbst in einen fachlichen Dialog mit den Einrichtungen zu treten. Die Widersprüchlichkeit des zurzeit üblichen Verfahrens beschreibt die Zeitschrift „Pflegerecht“ im Rahmen einer Auseinandersetzung mit einem Urteil des Sozialgerichtes Hildesheim zu Maßnahmenbescheiden nach § 115 Abs. 2 SGB XI wie folgt: „Es grenzt an Ironie, dass Maßnahmenbescheide in der Diktion des MDK stets eine „handlungsleitende“ Pflegeplanung fordern, selbst aber in aller Regel Maßnahmen nur ganz abstrakt bzw. lediglich in Form zu erreichender Ziele formulieren und so den Pflegeeinrichtungen in keiner Weise den Weg zu einer Umsetzung der so genannten Maßnahmen weisen, der ihren Anforderungen entsprechen würden“. Im Interesse der Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen und Pflegekassen mit dem Ziel der Verbesserung der Leistungsqualität ist eine Veränderung des Verfahrens dringend geboten. (Al)