Im ersten Lebensjahr stehen Saugen, Nuckeln und das Verlangen, alles in den Mund zu nehmen, an oberster Stelle. Das Baby erkundet seine Welt mit dem Mund – es ist in der “oralen Phase” (os [lateinisch] = Mund). Geprägt wurde der Begriff von Sigmund Freud. Zunächst überwiegt das passive “Bekommen”. Mit dem Einsatz der Hände und mit den Zähnchen kommt das aktive “Sich-Nehmen” hinzu. (Text: © Dunja Voos, Bild: © Rike, Pixelio)
Das Baby nimmt die Mutter ganz auf
Begierig trinkt das gesunde Kind an der Brust der Mutter bzw. aus dem Fläschchen. Es nimmt die gute Nahrung in seinen Körper auf. Aber es passiert noch mehr: Der Säugling nimmt dabei die Mutter in seine Psyche auf. Die “Liebe geht ganz durch den Magen” (Siegfried Elhardt), das Kind hat die Mutter “zum Fressen” gern. Spätere Essstörungen oder Ängste um “vergiftetes” Essen können aus einer gestörten frühen Still-Beziehung zur Mutter herrühren. Die Nähe zwischen Mutter und Kind ist während der Mahlzeiten im Säuglingsalter sehr groß. Das Baby verbringt viel Zeit damit, sich die Mutter bei den Fütterzeiten anzusehen. Im Kind entsteht ein Bild von der Mutter und zugleich eine Vorstellung (Repräsentanz) davon, wie es ist, Zuwendung von ihr zu bekommen. Dieses Bild gibt später Sicherheit und ist auch innerlich da, wenn die Mutter äußerlich weg ist. Bald kommen die Händchen mehr und mehr zum Einsatz. Die Welt wird “hand-hab-bar” und “be-griffen” (Siegfried Elhardt).
Die Grenze zwischen Mutter und Kind entsteht
Doch die Mutter ist nicht immer gleich verfügbar. Immer wieder ist das Kind frustriert, weil die Mutter nicht alle Wünsche erfüllen kann. Die Brust kommt nicht immer sofort, wenn Hunger da ist. Dieses “Realitätsprinzip” führt dazu, dass das Kind lernt, sich selbst (das “Subjekt”) von anderen Menschen (den “Objekten”) zu unterscheiden. Gleichzeitig lernt es, dass die “gute Mutter”, die manchmal die Bedürfnisse befriedigt, dieselbe Person ist wie die “böse Mutter”, die manchmal keine Zeit hat oder nicht auf das Kind eingehen kann.
Orale Phase und Depression
Störungen in der oralen Phase können – nach psychoanalytischer Theorie – später zu Depressionen führen. Das heißt nicht, dass eine gestörte orale Phase zwangsläufig Depressionen zur Folge hat oder dass Depressionen immer auf eine Störung in der oralen Phase zurückzuführen sind. Aber es kommt beispielsweise oft vor, dass Kinder von depressiven Müttern später selbst depressiv werden. Bereits die Babys depressiver Mütter zeigen selbst Anzeichen einer Depression auf. Auch gesunde Babys machen eine Phase der “Depression” durch, wenn sie erleben, wie abhängig sie von der Mutter sind.
Wenn Depressionen die Kraft für das Kind rauben
Wenn die Mutter selbst mit psychischem Leid beschäftigt ist, kann sie nicht ausreichend auf ihr Kind eingehen. Es fühlt sich dann allein und lernt sich selbst und seine Emotionen nicht so gut kennen wie ein Kind, dessen Mutter gefühlsmäßig verfügbar ist. Dieses mangelnde Gespür für sich selbst kann zu Depressionen führen. Erwachsene depressive Menschen wiederum verhalten sich oft hilflos, so dass sie fast an einen hilflosen Säugling in der oralen Phase erinnern. Eine Depression zu haben heißt, nicht gut genug zupacken und “zubeißen” zu können. Die Aggressionen werden gegen sich selbst gerichtet.
Depressionen und der Mund
Bei Depressionen geht es oft um das Thema “Versorgung”. Depressive Menschen haben häufig eine große Sehnsucht danach, gut versorgt zu werden. Diese Sehnsucht ist oft so groß, dass sie selbst andere liebevoll versorgen und umhegen. Sie bekochen andere und sind selbst vielleicht eher dick. Wer depressiv ist, steckt sich gerne etwas in den Mund – seien es Zigaretten, sei es Schokoladenpudding oder Alkohol. Diese Zusammenhänge zeigen, wie eng die Depression mit “oralen Themen” zusammenhängt.
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Links:
Lilian Fried:
“Frühkindliche Sexualität”
www.familienhandbuch.de
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Abstillen – wann und wie?
Barbara Diepold:
Depression bei Kindern
Psychoanalytische Betrachtungen (PDF)
Zum Nachlesen:
Siegfried Elhardt:
Tiefenpsychologie
5. Der Hunger und seine Folgen
Kohlhammer-Verlag Stuttgart 2001: 76-80