April 2010
Hausarzt Dr. Kunze hat alle Sinne beisammen
Fauliger Geruch stand im Raum. Dr. Kunze betrat das Untersuchungszimmer und roch sofort den Prozess der Zersetzung.
Patient Eckhart Beermann war tags zuvor zu ihm gekommen, weil er meinte, mit ihm stimme etwas nicht. Er fühle sich schwach, die Luft sei knapp, und er sei schnell erschöpft. So hatte er geklagt. Sein Hausarzt hatte diese Klagen ohne zu zögern ernst genommen, weil Herr Beermann niemand war, der häufig in seiner Praxis erschien und über Bagatellen jammerte. Das Aroma der Fäulnis bestätigte beides, die Aussagen des Patienten und die Vorsicht des Arztes.
Als Hausarzt mit über dreißig Jahren medizinischem Alltag in der Praxis, hatte er gelernt, seiner Erfahrung und seinen Sinne zu trauen. Die moderne Technik war den eigenen Augen, Ohren, Händen und auch seiner Nase nicht unbedingt überlegen. Dr. med. Anselm Kunze war überzeugt, dass er, wenn es sein müsste, allein mit Stethoskop, Blutdruckmessgerät und Reflexhammer die allermeisten seiner Patienten gut durch den Dschungel von Befindlichkeitsstörungen und Krankheiten würde führen können. Das hieß nicht, dass er in jedem Falle eine genaue Diagnose würde stellen können, aber das war seiner Meinung nach erstmal auch nicht nötig. Viel wichtiger war, einschätzen zu können, ob man sich als Mediziner zurückzuhalten hatte, bis die Natur ihren Teil geregelt hatte, oder ob tatsächlich einzugreifen war. Letzteres schien ihm viel seltener nötig, als medizinische Laien glauben mochten. Und es war sicher auch seltener nötig, als der typische moderne Jungarzt annahm, groß geworden und ausgebildet in einer hochtechnisierten Welt.
Im Gegenteil. Dr. Kunze hatte oft genug erfahren müssen, dass ein Zuviel an Untersuchungen ein Zuviel an Therapie auslöste. Beides beruhigte zwar den Arzt, konnte den Patienten aber unnötig belasten. Und an dieser Stelle erwähnte Hausarzt Dr. Anselm Kunze im Verlaufe einer Diskussion gern, dass der Arzt zum Wohle der Patienten da sei und nicht zum eigenen. Der Faktor Angst war ihm in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Wie oft löste ein scheinbar krankhafter Befund nach einer Untersuchung zwar Sorge aus, aber nicht das medizinische Rätsel. Es war die Frage, ob das Wissen um die Vorwölbung einer Bandscheibe ein Problem löste oder ein neues schaffte, nämlich die Angst vor der Instabilität der eigenen Wirbelsäule. Es gab Hunderte Beispiele dieser Art.
Andererseits arbeitete Hausarzt Dr. Anselm Kunze bewusst daran, nicht als antiquiert und stur zu gelten. Alles hatte seine Zeit. Deswegen hatte er Eckhart Beermann zunächst gründlich untersucht und befragt. Da dies aber ohne klaren Befund verlaufen war, hatte er ihn für diesen Morgen zur Blutentnahme, zum EKG und zur Ultraschalluntersuchung einbestellt. Die weiterführende Diagnostik war notwendig geworden, weil der Hausarzt mit seinen eigenen Sinnen nichts entdeckt hatte, was die Beschwerden des Patienten erklären konnte, und weil Patient und Hausarzt sich sorgten. Der Fäulnisgeruch war Dr. Kunze tags zuvor nicht aufgefallen. Bei der körperlichen Untersuchung hatten sich keine offenen Wunden gefunden oder sonst eine Erklärung, die im Nachhinein die auffällige Sinneswahrnehmung hätte erklären können. Vielleicht ergaben die Blutuntersuchung und der Ultraschall etwas.
Der Hausarzt wusste, dass selbst eine einfache Ultraschalluntersuchung eine gewisse Gefahr barg. Nicht die Methode selbst war gefährlich, darin war sich die Wissenschaft wohl einig: Ultraschallwellen richteten keinen Schaden an. Untersuchte man aber beispielsweise sonografisch, um eine Nierenerkrankung abzuklären, kontrollierte aber Bauchspeicheldrüse, Milz, Leber und Gallenblase gleich mit, weil man schon einmal dabei war, und entdeckte auf diese Weise einen Gallenstein, stand man vor einem Problem. Ein Gallenstein war ein krankhafter Befund. Zumindest war er von Natur aus nicht vorgesehen.
Was war also zu tun? Der Arzt weiß, Gallensteine können jederzeit zu einem Störfaktor werden, Koliken auslösen oder Entzündungen. Ebenso konnten die Betroffenen jahrzehntelang beschwerdefrei bleiben. Andererseits war bekannt, dass Gallensteine, wenn sie viele Jahre in der Gallenblase lagen, in seltenen Fällen eine besonders aggressive Krebserkrankung der Gallenblase begünstigten. Wie viele Jahre lag ein bislang unentdeckter Stein in der Gallenblase? Musste der Patient deswegen operiert werden? Operierte man einen gesunden Patienten, der lediglich wegen eines flüchtigen Schmerzes in der Nierengegend zum Arzt gegangen war? Reichten Kontrollen? Konnte man im Nachhinein abgefragte Beschwerden nicht doch im Sinne des Gallensteinleidens erklären? Fragen über Fragen, die der moderne Arzt zudem gern in Gegenwart des Patienten laut aussprach. Der Patient wiederum, kaum war er zu Hause, googelte gern im Internet. Allein das Suchwort Gallenstein ergab über hunderttausend Ergebnisse. Eine Unzahl an Antworten, die in diesem Zusammenhang bestimmt nicht besser war als eine oder keine.
Der überraschende Fund eines Gallensteins war nur ein Fall von vielen. Hausarzt Dr. Kunze konnte es beispielsweise nicht fassen, wenn ein Patient, der sich beim Sport das Knie verdreht hatte und mit geschwollenem Gelenk in der Ambulanz eines Krankenhauses erschien, zu allererst geröntgt wurde. Auf der Röntgenaufnahme war keine Verletzung zu erkennen, was auch nicht zu erwarten war. Schmerz und Schwellung aber waren nicht wegzudiskutieren, also ging es mit dem Patienten „ab in die Röhre“. Noch hatte zu diesem Zeitpunkt kein Arzt das Knie des Verletzten mit eigenen Sinnen und Händen durchuntersucht. Andererseits war jetzt, nach Röntgen und Kernspintomogramm, unweigerlich der Zeitpunkt gekommen, eine Diagnose zu stellen. Das war wichtig, denn hatte man hatte schon einigen Aufwand betrieben und ein erkleckliches Sümmchen Geld ausgegeben. Da durfte man sich mit einer Diagnose, die mehr hergab als eine Kapseldehnung oder eine Verstauchung, nicht lumpen lassen. Hatte ein Patient an dieser Stelle seine ersten vierzig Lebensjahre hinter sich und hatte sich immer gern bewegt, waren Veränderungen im Knorpel und in den Bändern wahrscheinlicher als keine. Menisken und und Knorpelflächen, die ein paar Jahrzehnte Leben hinter sich hatten, waren immer für einen „krankhaften“ Befund gut.
So ging es weiter. Am Ende musste man als Patient froh sein, wenn man an einer Verstauchung nicht operiert wurde, weil laut Kernspintomogramm eine „Gelenktoilette“ mit Skalpell und Hobel unausweichlich schien. Allerdings, und das war das Fatale, war der moderne Patient häufig genug beeindruckter, vielleicht innerlich sogar zufriedener mit einer operationswürdigen Diagnose als mit einem elastischen Salbenverband, der nach genauer Untersuchung und Befragung der Natur eine Chance gelassen hätte, die Dinge selbst zu richten.
Unter Ärzten kursierte in diesem Zusammenhang ein Bonmot, das langsam Patina ansetzte: Mache nie auf einer Parkbank ein Nickerchen. Du könntest in einem Herzkatheterlabor aufwachen.
Vielleicht wurde er aber einfach nur alt, dachte Dr. Kunze, setzte sich, nahm den Ultraschallkopf in die Hand und schüttelte den Kopf. Der Patient beobachtete ihn, verstand seinen Hausarzt falsch und verteidigte sich kleinlaut:
„Sie müssen schon entschuldigen, Herr Doktor, aber der Tilsiter sah so verlockend aus, da konnte ich nicht widerstehen. Jetzt mieft er in meiner Einkaufstasche vor sich hin. Verzeihen Sie den Gestank.“
Dr. Kunze verstand im ersten Moment nicht und sah seinen Patienten verdutzt an. Dann geschah etwas, was den Patienten noch mehr verwirrte: Sein Hausarzt lachte schallend.