Auf keinen Geringeren als Albert Einstein stützt eine Gruppe Komplementärmediziner im aktuellen Ärzteblatt ihre Forderung nach einer “pluralistischen” Medizin.
Das ist nichts Neues. Im Jahre 2005 veröffentlichten Helmut Kiene, Günter Ollenschläger und Stefan N. Willich ein Editorial mit der Überschrift „Pluralismus der Medizin – Pluralismus der Therapieevaluation?”. Zur Begründung dieses Pluralismus führen sie aus:
„In Deutschland ist die heutige Façon des Pluralismus der Medizin mit den Anfängen der pluralistischen Konzeption von Wissenschaft verbunden. Voraussetzung des Wissenschaftspluralismus war der Konsens, dass logisch-mathematische Wissenschaften auf willkürlichen Axiomen beruhen und dass in empirischen Wissenschaften nicht nur die Fakten die Theorien bestimmen, sondern umkehrt auch die Theorien die Fakten. (Einstein: „Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann.“) In mathematischen und empirischen Wissenschaften können demzufolge mehrere Parallelsysteme existieren“
Tatsächlich hat Einstein diesen Satz gesagt, und zwar im Jahre 1926, an einem Mittwoch. Damals fand mittwochs in Berlin das berühmte Physik-Kolloquium statt. In diesem hatte der damals 25-jährige Werner Heisenberg einen Vortrag über die von ihm entwickelte Quantenphysik gehalten. Einstein war so interessiert, dass er Heisenberg in seine Wohnung einlud, um weiter zu diskutieren, wobei es zu dieser Äußerung kam.
Schon im folgenden Jahr hat Heisenberg dieses Problem gelöst. In der von ihm weiter entwickelten Quantenphysik wird genau erklärt, welche Größen beobachtbar sind und welche nicht. Die Frage, welche Größen beobachtbar sind, wird mathematisch perfekt festgelegt: Vereinfacht gesagt: zwei Größen sind dann nicht beobachtbar, wenn ihr Produkt in denselben Einheiten gemessen wird wie das Planck’sche Wirkungsquantum. Diese Nichtbeobachtbarkeit ist nicht in das Belieben von Einstein, Heisenberg oder irgendeiner anderen Person gestellt, sondern wird perfekt mathematisch festgelegt. Diese Größen sind nicht deshalb unbeobachtbar, weil wir zu dumm oder unsere Geräte zu ungenau sind, sondern weil sie in der Natur nicht existieren. Und was nicht existiert, kann man auch nicht beobachten. Diese Vorschrift, nicht beobachten zu können, was nicht existiert, nennt man die Heisenberg’sche Unbestimmtheitsrelation von 1927.
Jetzt haben Kiene und Heimpel sowie 13 weitere Autoren, darunter Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer, diese Argumentation fortgesetzt. Die erneute Verwendung des Einstein-Zitats veranlasst mich zu einer Stellungnahme:
Das grundlegende Missverständnis ist: Einstein hat gesagt: „… was man beobachten kann“. Und nicht, wie es die Autoren zu verstehen scheinen „… was die Fakten bestimmt; d.h. … was existiert“.
Im Bezug auf die Physik kann ich sagen: Es gibt nur eine Natur, also gibt es auch nur eine Theorie, die sie vollkommen richtig (ideal) beschreibt. Aufgabe der Wissenschaftler ist, diese ideale Theorie zu finden bzw. ihr so nahe zu kommen, wie es der heutige Kenntnisstand, die Präzision der Geräte usw. erlauben.
Oberste Priorität hat die Natur; die Theorie muss ihr folgen, nicht umgekehrt. Wir treten der Natur als Beobachter und Beschreiber gegenüber, nicht als ihre Erschaffer, die ihre Fakten durch unsere Theorien bestimmen könnten.
Wird im Experiment auch nur die geringste Abweichung der Theorie von der Natur festgestellt, so muss die Theorie so lange geändert werden, bis sie die Natur richtig beschreibt. In der Physik wird der Entdecker derartiger Abweichungen nicht etwa bestraft oder geächtet, sondern belohnt. Je größer die entdeckte Abweichung der Theorie von der Natur ist, desto größer ist der Ruhm. Kleinere Entdeckungen führen zur Dissertation oder Habilitationsschrift, größere zum Nobelpreis. Es gibt gerade kein „Physik-Parallelsystem“.
Wird entsprechend den Ausführungen der Autoren auch die Therapieevaluation den Wünschen der Vertreter der jeweiligen Therapierichtung angepasst, wo ist dann noch eine Grenze? Gibt es dann auch Therapien mit Bioresonanz, Orgon, Tachyonen, Erdstrahlen, Skalarwellen usw.?
Insgesamt ist aus den Ausführungen der Autoren zu schließen, dass ihnen bisher der Wirksamkeitsnachweis eines Hochpotenzhomöopathikums nach dem wissenschaftlichen Kriterium des randomisierten Doppelblindversuchs nicht gelungen ist.
Die meisten der 15 Autoren lehren die Wirksamkeit von Hochpotenzprodukten der Homöopathie und anthroposophischen Heilkunst, widersprechen also radikal der heutigen Kenntnis der Physik. Dass sie ihre Position auf das Zitat eines Physikers stützen, ist kühn.
Zum Weiterlesen:
- Martin Lambeck (2005): Können Homöopathie und Parapsychologie auf die Quantenphysik gegründet werden? SKEPTIKER 3/2005, S. 111-117.
- Martin Lambeck (2006): Irrt die Physik? Über Alternative Medizin und Esoterik. Rowohlt, Reinbek.
- Martin Lambeck (2006): Fehledeutungen der Physik und Philosophie in der Alternativmedizin. SKEPTIKER 2/2006, S. 56-63