Seit einigen Jahren boomt der Begriff „Sucht“.
Hier ein paar Beispiele „neuer Süchte“, die allesamt ernsthaften seriösen Quellen entspringen und ernst gemeint sind (bitte immer den Begriff „Sucht“ anhängen): Arbeit, Internet, Glücksspiel, Sex, Essen, Nicht-Essen, Geltung, Computerspiele, Joggen, Kaufen, Wissen, Zucker, Trauer um Angehörige, Gesund essen, Sport treiben, Medien, lesen, spielen, Gartenarbeit, Beerdigungen, Kaffee, Sonnenbräune, Handy, SMS, telefonieren, Orthorexie, Risiko, Jähzorn, und, und, und…. letzte Meldung vom 26.04.2010: soziale Netzwerke machen abhängig…..
Letztlich bleibt nur übrig: Alles, was Lust oder Unlust macht, kann süchtig machen. Wir erleben einen inflationären Gebrauch des Suchtbegriffs. Das ist ziemlich verrückt. Und beschert uns einige Probleme.
Erstens: Es gibt keine Gesunden. Es gibt nur nicht ausreichend Untersuchte.
Pathologisieren nennt man diesen Vorgang: Abweichungen von der Norm sind krank.
Wir finden das überall im Gesundheitswesen, nicht nur in Deutschland. Eine Mischung aus Zahlen- und Statistikgläubigkeit, verbunden mit dem Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Klarheit führt zu exakt durchstandardisierten Ablaufvorgaben.
So wird der Mensch zum immer renitenteren Störfaktor: krank ist, wer nicht in die Standardnorm passt. Und die baut immer mehr auf wenige, so genannte „Schlüsselfaktoren“.
Beispiel: Europas Kardiologen. Beherzt hat die europäische Gesellschaft für Kardiologie in den letzten Jahren Leitlinien zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Krankheiten entwickelt. Dabei hat sie stetig die Grenzwerte für Blutdruck und Cholesterin abgesenkt. „In der Tat haben Untersuchungen an mehr als 60000 Norwegern ergeben, dass es kaum noch Gesunde gibt, folgt man Europas Herzexperten: Diese empfehlen Grenzwerte beim Blutdruck von 140 zu 90 und beim Cholesterin von 193 Milligramm pro Deziliter Blut. Unter diesen Werten bleibt aber höchstens ein Viertel aller Erwachsenen.“ schreibt die Süddeutsche Zeitung am 24. Juni 2005.
Einzelne Werte wie Blutdruck und Cholesterin geben die Gefährdung aber nur sehr unvollständig wieder, weshalb deutsche Kardiologen gerne weitere Faktoren wie Gewicht, allgemeine Lebensführung, psychische Belastungen und Zusatzerkrankungen wie Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) in ihre Überlegungen zu Risiko, Therapie und Prävention mit einbeziehen.
Ein vernünftiges Vorgehen, denn auf Zusammenhänge kommt es eben an beim Menschen und der Entwurf eines computerlesbaren Norm-Datenblatts für unsere Spezies kann auch Risiken bergen: „Es gibt sogar Hinweise darauf, dass die Versorgung durch immer niedrigere Grenzwerte schlechter wird", sagt der Kölner Gesundheitsexperte Peter Sawicki. „Patienten werden demotiviert, weil sie die irrealen Zielvorgaben nicht erreichen können."… Zudem gibt es kaum Erkenntnisse darüber, wie sich die Senkung von Blutdruck und Cholesterin über Jahrzehnte auswirkt – weder im Hinblick auf die Wirksamkeit noch auf die Nebenwirkungen. Umstritten sind auch die Folgen fürs Gemüt: „Was bedeutet es psychologisch, wenn man das Etikett ,erhöhtes Risiko" verpasst bekommt?"
Im Bereich „Sucht“ sind dieselben Vorgänge wahrnehmbar. Auch hier wird zunehmend normiert und pathologisiert, dass einem schwindlig werden kann. Man muss sich fast hüten, irgendetwas mehrmals, womöglich regelmäßig, und das auch noch mit Freude, Lust oder gar mit einem Tick Euphorie zu tun – prompt wird man süchtig gesprochen.
Wir sollten damit aufhören.
Zweitens: Inflation entwertet.
Sucht ist eine hinterhältige, richtig fiese, den Menschen demütigende und Leben verkürzende Erkrankung. Sie ist schwierig zu behandeln, alles andere als ein Kinderspiel und schon gar nicht belanglos.
Der ausufernde und inflationäre Gebrauch des Suchtbegriffes macht die Suchtkrankheit zum alltäglichen Pipifax. Das ist an den Reaktionen von Politikern, Journalisten, Krankenkassenvertretern und sogar Ärzten ablesbar: «Jeder süchtelt doch ein wenig, nicht wahr!» heißt es da mit einem Augenzwinkern und man schiebt pflichtschuldigst hinterher: «Natürlich muss die Jugend davor bewahrt werden.»
Jeder hat irgendwo irgendwelche Abhängigkeiten von irgendwas. Aber das ist doch nicht krank! Auch nicht suchtkrank!
Wir sollten uns wirklich sehr sorgfältig davor hüten, nicht regelkonformes Verhalten pauschal mit Krankheitswert zu belegen, selbst dann, wenn es uns nicht sonderlich plausibel scheint.
Drittens: Nur ernst zu nehmende Krankheiten werden ernst genommen.
Sucht ist eine chronisch-rezidivierende Erkrankung. Chronisch bedeutet, dass diese Krankheit langfristig und langwierig ist. Rezidivierend bedeutet, dass sie in Phasen verläuft, immer wieder aufflackert und vermutlich niemals ganz verschwindet. Phasen, in denen keine Suchtmittel konsumiert werden wechseln mit Phasen ab, in denen wieder zur Substanz oder den Suchtstoffen gegriffen wird. Der Phasenwechsel, die Wiederholung, der «Rückfall» sind also integraler Bestandteil des Krankheitsbildes.
Sucht ist eine schwere, sozial ziemlich unverträgliche, äußerst kostenträchtige und nicht selten tödliche Erkrankung.
Sucht nimmt dem Betroffenen seine Selbstbestimmungsmöglichkeiten, ohne dass er das über einen langen Zeitraum selbst mitbekommt. Schlimmer noch: sie gaukelt ihm dabei Handlungsfähigkeit vor: "Ich könnte ja aufhören. Ich will nur nicht…"
Sie schädigt seine Psyche und seinen Körper. Sie schädigt sein gesamtes soziales Umfeld. Sie kostet den Einzelnen und die Anderen Unsummen. Und sie ist allgegenwärtig.
Wir können uns gar nicht leisten, sie nicht ernst zu nehmen.
Die Rückkehr zur Konzentration auf das Wesentliche ist deshalb dringend angezeigt.