Das Lazarus-Phänomen

Wir befinden uns auf der Intensivstation einer großen Uniklinik irgendwo am Rande der Stadt (nee, nicht in Bad Dingenskirchen. Es sollte schon eine Uni-Stadt sein).
Es ist kurz vor Mitternacht und in der Luft hängt das übliche Aroma von abgestandenem Adrenalin und frischem Kaffee.
Monitore piepsen, Beatmungsmaschinen zischen und der diensthabende Arzt unterhält sich, das Klemmbrett einer Krankenakte in der Hand halblaut mit der Schwester.
Und dann geht der Alarm los. Herzstillstand in Kabine drei. Geistesgegenwärtig springen Arzt und Schwester los und beginnen mit routinierten Handgriffen die Reanimation. Nach und nach erscheinen Oberarzt, Oberschwester und andere Gestalten, die etwas zu sagen haben oder so tun als ob. Als eingespieltes Team müht man sich redlich ab – vergeblich, wie in neunzig Prozent aller Reanimationen. Nach einer halben Stunde gibt man auf.
Nullinien-EKG, trotz maximal dosierten Katecholaminen und mehrfacher Defibrilation. Da der Patient einen Organspenderausweis hat und die Nieren zur Explantation in Frage kommen, wird mittels EEG und Hirnarterien-Doppler der Hirntod festgestellt.
Der Assistenzarzt holt schon mal einen Totenschein aus der Schublade.
Während er mit dem Ausfüllen beginnt, schlägt der Patient die Augen auf, steht auf und umarmt die Krankenschwester.
Ähem… gibt’s das?
Klar. Damals, beim heiligen Lazarus. Steht so in der Bibel und kommt in etwa so häufig vor wie die unbefleckte Empfängnis.
Wirklich?
Seit den achtziger Jahren sind eine handvoll Fälle bekannt und auch wissenschaftlich beschrieben worden, die fast so abgelaufen sind wie oben beschrieben. Eine davon hat übrigens ihre Retter umgehend auf Kunstfehler verklagt. Das war natürlich in den USA.
Was sagt uns das?
Ein hirntoter Mensch ist noch zu fünfundneunzig Prozent lebendig, er kann, rein theoretisch Kinder zeugen und auch gebären und ob er vielleicht doch etwas fühlen, empfinden oder vielleicht denken kann, das werden wir nie erfahren.

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