Fußball im Himalaja (zum Start der WM)

Angepasster Auszug aus Namaste Indien! ISBN 978-3-9808429-1-4
von Wolf-Peter Weinert, erschienen im Verlag Leben&Schreiben.
Erhältlich im Buchhandel oder versandkostenfrei unter www.lebenundschreiben.de/indien.html
Fußball im Himalaja
Leh, die Hauptstadt der Himalaja-Region Ladakh, liegt im äußersten Norden Indiens. Die Lage in 3.500 Meter Höhe entspricht unserer europäischen Hochalpenregion.
Alexander Koch, seit Monaten auf Reisen durch Indien und vier Tage zuvor mit dem Bus aus Kashmir in Leh angekommen, war noch immer dabei, sich an die Hochlage zu gewöhnen. Anfangs keuchte bei jeder Anstrengung. Um zu trainieren unternahm er täglich kleinere Stadtbummel, die er nach und nach ausdehnte. Schließlich stieg er zum Palast der Stadt auf und wagte sich an eine Anhöhe im Rücken der Stadt. Am vierten Tag wanderte er zum Kloster der buddhistischen Gelbmützen-Mönche nach Thikse und fuhr mit dem Bus zurück.
Das Wetter war beständig. Leh lag tagsüber im strahlenden Sonnenschein oberhalb des Indus. Der Fluss ist hier in den Bergen noch nicht der mächtige Strom, der tausende Kilometer weiter, bei Karatschi, in das Arabische Meer mündet.
Trotz der Wanderung vom Vormittag spürte Alexander noch Energie, als er in Leh aus dem Bus stieg und am alten Poloplatz vorbeikam. Dort kickten ein paar Ladakhis mit einer alten Lederkugel . In Alexander regte sich der Fußballer-Instinkt. Es juckte ihm im Fuß. Zwei anderen Reisenden schien es ebenso zu gehen. Sie standen in seiner Nähe und blickten sehnsüchtig dem Flug des Balles hinterher, wenn einer der Einheimischen zu einem Schuss angesetzt hatte.
Plötzlich flog der Lederball Alexander vor die Füße. Er stoppte ihn mit der Fußspitze, stieß ihn an, gab ihm dabei einen Rückwärtsdrall damit er auf seinen Fußrücken rollte. Er ließ den Ball ein paarmal vom rechten auf den linken Fuß springen, beförderte ihn weiter zu den Knien und hinauf zum Kopf. Dort tanzte er eine Weile auf seiner Stirn, bis er ihn wieder über die rechte Hacke auf seinen linken Fuß fallen ließ, um ihn dann, kurz bevor er den Boden berührte, mit dem Außenrist lässig aufs Spielfeld zurückzukicken.
Die einheimischen Fußballer starrten ihn an wie einen Geist, der er aus den Bergen zu ihnen gekommen war, um sie das wahre Fußballspiel zu lehren. Neben Alexander allerdings klatschte jemand betont lahmen Beifall. Er drehte sich um zu den beiden Travellern und wusste, dass er sich vom Ball hatte hinreißen lassen. Er stand da wie ein Angeber.
„Ich hatte einfach Lust auf Fußball“, rechtfertigte er sich. Wie immer sprach er Englisch zu Fremden.
Die beiden neben ihm nickten und zeigten Verständnis.
„Okay! Where are you from?“
„From Germany!“
Es gab es ein kurzes Hallo, denn die beiden Zuschauer stammten aus München. Sie gaben zu, dass es ihnen ebenfalls in den Füßen juckte, wenn sie den jungen Bergbewohnern so zusahen. Während die drei Männer sich einander vorstellten, bemerkten sie nicht, dass die fünf ladakhischen Fußballer zu ihnen herüberkamen. Als sie vor ihnen standen, begann einer von ihnen zu sprechen:
„Where are you from?“
„From Germany!“ antworteten die drei gleichzeitig.
Der Einheimische, der die Frage gestellt hatte, ein kleiner drahtiger Fußballer, dessen gute Technik Alexander aufgefallen war, lachte und klatschte in die Hände, dann rief er etwas, was die drei Touristen nicht verstanden. Es klang nach:
„Ruhmnik? Bäkbur?“
Die drei Deutschen sahen sich fragend an und zuckten einträchtig mit den Schultern. Ein anderer wiederholte dieselben Worte.
„Ruhmnik? Bäkbur?“
Die Fremden konnten sich keinen Reim darauf machen. Was meinten die bloß? Wie zur Erklärung nahm einer von ihnen den Ball, jonglierte mit ihm, ähnlich wie Alexander es vorher getan hatte, allerdings etwas hölzerner. Wieder kam das Ruhmnik? Bäkbur? und wieder antworteten die Deutschen mit ihren Schultern. Dann nahm einer, der vorher eher durch eine etwas plumpe Ballbehandlung aufgefallen war, die Lederkugel, legte sie behutsam vor sich auf den Boden, wie man es vor einem Freistoß oder einem Elfmeter machte und streichelte den Ball nur mit dem Außenrist. Diesmal kam dazu nur:
„Bäkbur?“
Alexander ging ein Licht auf!
„Ach! Jetzt weiß ich, was sie meinen!“ rief er.
Fünf Ladakhis sahen ihn in freudiger Erwartung an.
„Sie fragen nach Beckenbauer und Rummenigge!“ klärte er seine Landsleute auf und die Einheimischen nickten begeistert.
„Yes, Bäkbur, Ruhmnik!’“
Rummenigge und Beckenbauer waren zwar zu Ruhmnik und Bäkbur entstellt, aber der Ruf der deutschen Stars war bis in die einsamen Berge von Ladakh gedrungen. Mit wenigen Brocken Englisch, dazu mit Händen und Füßen, versuchten die drei deutschen ein Gespräch mit den Ladakhis. Auf jeden Fall waren sich alle einig, dass Fußball der beste Sport der Welt war. Am Schluss vereinbarten sie ein Spiel für den nächsten Tag – Ladakh gegen Deutschland, ein Länderspiel sozusagen. Die beiden Bayern waren sicher, dass noch ein paar Landsleute in den Restaurants aufzutreiben waren. Das Polofeld war deutlich kleiner als ein Fußballplatz, deswegen einigte man sich auf sieben Feldspieler plus Torwart. Treffpunkt war das Polofeld am nächsten Tag um drei Uhr nachmittags.
Zu dritt machten die Deutschen sich auf den Weg zum Tibetian Friends Corner. Das Restaurant ist ein beliebter Treffpunkt für Reisende aus aller Welt. Tatsächlich fanden sie dort genügend Leute für eine deutsche Fußballmannschaft. Ein paar Italiener und Franzosen bekamen Wind von der Sache und wollten mitspielen, aber das wurde dankend abgelehnt. Ein Länderkampf zwischen Ladakh und Deutschland war ausgemacht, den anderen blieb nur der Neid.
Am nächsten Nachmittag war es soweit. Alle Spieler trafen pünktlich ein. Einer der beiden Münchner wurde zum Mannschaftsführer bestimmt. Da die deutschen Touristen ihre fußballerischen Qualitäten untereinander nicht kannten, qualifizierte den Münchner allein die Tatsache zum Kapitän, dass er aus der Stadt der ehemaligen Bayernstars Beckenbauer und Rummenigge stammte. Er schritt zur Seitenwahl und begrüßte den Mannschaftsführer aus Leh mit Handschlag. Am Spielfeldrand hatten sich etliche Einheimische versammelt, sogar eine Gruppe buddhistischer Mönche wartete auf den Anpfiff. Als gerade die Frage nach einem Schiedsrichter aufkam, bogen die Italiener und Franzosen um die Ecke und in ihrem Gefolge eine Anzahl Touristen. Sie wollten sich das Spiel wenigstens ansehen.
Alessandro stellte sich als Schiedsrichter zur Verfügung. Bei der Frage nach einer Pfeife zeigte er auf seinen Mund und seine Finger. Schnell wurde geklärt, dass es kein Abseits geben sollte, dann forderte Alessandro mit dramatischer Geste den Ball, platzierte ihn in der Mitte des Feldes, wo sie seiner Meinung nach war und stieß einen schrillen Pfiff durch seine Zähne. Es ging los!
Die deutschen Reisenden waren beinahe so etwas wie eine repräsentative Vertretung ihres Heimatlandes: Im Tor stand ein Bremer, die Verteidigung bildeten zwei Bayern und ein Pfälzer, das hessisch-niedersächsische Mittelfeld sollte Pässe für einen weiteren Bayern und Alexander als Westfalen im Sturm liefern. Die Begegnung war auf zweimal eine halbe Stunde angesetzt.
Es zeigte sich rasch, dass die Deutschen, obwohl sie sich untereinander nicht kannten, den Ladakhis überlegen waren. Die Männer aus den Bergen rannten zwar unermüdlich den Platz rauf und runter, aber es fehlte ihnen an taktischem Geschick. Häufig liefen sie alle in der Nähe des Balls zusammen, selten löste sich mal einer von ihnen, um sich für einen öffnenden Pass anzubieten. Die Deutschen waren allesamt erfahrene Fußballer mit Blick für den freien Raum, zwei, drei kurze Zuspiele und eine Flanke brachten beinahe zwangsläufig eine gute Torchance. Manchmal warf sich der mutige Torwart der Ladakhis den Stürmern aus dem fernen Land vor die Füße oder parierte einen strammen Schuss, dann erntete er den Beifall von Mönchen, Travellern und Spielern.
Alexander und sein Sturmpartner waren ballverliebt, trotzdem gewöhnten sie sich lange Dribblings und Alleingänge schon nach den ersten Minuten ab. Die Luft war dafür einfach zu dünn. Wenn man anfing die Gegner auszuspielen, schaffte man den ersten Verteidiger mühelos, den zweiten mit Ach und Krach und dem dritten hätte man den Ball am liebsten freiwillig überlassen.
Gegen Ende der ersten Halbzeit führten die Deutschen überlegen sechs zu eins, allerdings kurz bevor Alessandro zur Pause pfiff, fiel das sechs zu zwei. Das späte Gegentor für die Einheimischen war ein Ergebnis ihrer überlegenen Kondition. Die Gastmannschaft war froh, als endlich zur Halbzeitpause gepfiffen wurde. Endlich konnte man zehn Minuten Luft schöpfen. Bis auf den Torwart keuchten alle, als hätten sie bereits eine Verlängerung hinter sich, dabei war erst eine halbe Stunde gespielt.
Nach dem Wiederanpfiff erhöhten die Deutschen schnell auf sieben zu zwei, dann war ihr frischer Schwung verpufft. Es ging einfach nichts mehr. Sie mauerten. Der Fußballplatz lag 3500 Meter über dem Meeresspiegel! Bis eine Viertelstunde vor Schluss betrug ihr Vorsprung fünf Tore und doch sollte es nicht zu einem Sieg reichen. Rapide blieb ihnen die Puste weg. Gegen Ende waren sie kaum noch in der Lage, einen vernünftigen Kurzpass zu spielen. So erbarmungslos, wie sie vorher ihre überlegene Technik genutzt hatten, spielte jetzt der Gegner seine überlegene Kondition aus. Die deutschen Touristen waren stehend k.o. und ließen ein Tor nach dem anderen zu. Meist standen sie machtlos auf einem Fleck, die Hände in die Lenden gestützt, nach Luft pumpend.
Die Stürmer der Gäste sahen aus der Ferne, wie ihre Verteidiger als Slalomstangen benutzt wurden. An ein Zurücklaufen war nicht zu denken. Der Torhüter tat sein Bestes, aber er sah sich immer wieder vier, fünf ladakhischen Stürmern gegenüber, so stand es kurz vor dem Ende der Partie sieben zu sieben – unentschieden. Die Deutschen hatten wieder einmal Anstoß. Einer ihrer Mittelfeldspieler trat müde hinter den Ball, der daraufhin Alexanders Sturmpartner vor die Füße fiel. Mit einer schlaffen Bewegung kickte er ihn weiter zu Alexander. Obwohl dieser verunglückte Kurzpass kaum einen Meter von ihm entfernt liegen blieb und der nächststehende Ladakhi mehrere Meter laufen musste, war der schneller am Ball. Unfähig etwas zu unternehmen sah Alexander zu, wie der gegnerische Stürmer den Ball in die deutsche Hälfte kickte, hinterherlief und die alemannische Verteidigung ignorierte. Schließlich stand der Jugendliche aus Leh allein vor dem Bremer Torwart. Der konnte gegen den platzierten Schuss nichts ausrichten. Es stand acht zu sieben für Ladakh und Alessandro sah bereits auf seine Uhr. Das Unentschieden war durch Alexanders groben Schnitzer dahin.
Es wurmte die deutschen Touristen mächtig, dass sie zurücklagen und schon wieder zum Anstoß antreten mussten. Mit ein paar Spielern steckten sie die Köpfe zusammen, tuschelten geheimnisvoll miteinander, als ob der Gegner die Mischung aus bayrisch und hochdeutsch hätten verstehen können, dann führten die den Anstoß aus. Während sie versuchten, den Ball in den eigenen Reihen zu halten, schlenderte Alexander in Richtung gegnerischen Strafraum. Er tat, als sei er vollkommen ausgelaugt, sonderlich zu schauspielern brauchte er dafür nicht. Wie abgesprochen schlug der Mittelfeldstratege aus Hessen unvermittelt einen langen Pass, den Alexander mit letzter Kraft annahm. Mühsam brachte er den Ball unter Kontrolle und bevor der Gegner richtig gemerkt hatte, was passiert war, lief er auf ihr Tor zu oder sagen wir, er ging schnell. Seine Kondition reichte eben, um sich in eine günstige Schussposition zu bringen, bevor ihn die Verteidiger erreichten, die über den Platz rannten, als wäre das Spiel eben erst angepfiffen worden. Der Torwart kam ebenfalls auf ihn zugesprungen, und das war sein Fehler. Für einen strammen Schuss hätte Alexander keine Kraft mehr gehabt, aber es langte für einen Heber ins kurze Torwarteck. Vergeblich reckte sich der Tormann im Fallen nach dem Ball, die Flugbahn reichte knapp über seine Fingerspitzen.
Drei Meter vor dem Tor setzte der Ball auf und kullerte Richtung Linie. Alexander blieb nur übrig ihm nachzustarren, nachlaufen hätte keinen Zweck gehabt, seine Gegner waren wesentlich schneller unterwegs. Gespannt, wie die Zuschauer am Spielfeldrand, sah er zu, was passieren würde. Fiel das Unentschieden oder wurde der Ball noch vor der Linie weggeschlagen? Die Sache war knapp und Alexander hatte seine letzten Energien verpulvert.
Der Ball war noch zwei handbreit von der Torlinie entfernt, als ein Ladakhi im Sprint heranpreschte. Er holte aus, um ihn wegzuschlagen. In diesem Moment versprang die Lederkugel auf einer kleine Unebenheit des Poloplatzes. Wahrscheinlich war der Abdruck eines Pferdehufs Schuld, jedenfalls änderte der Ball seine Richtung um eine Idee. Der im vollen Tempo heransausende Verteidiger konnte darauf nicht mehr reagieren und grätschte ins Leere, der Ball hoppelte über seinen Fuß – ins Tor. Acht zu Acht!
Ladakh gegen Deutschland – 8:8!
Alexanders Mitspieler beglückwünschten ihn. Er hatte seinen Fehler wieder ausgebügelt. Am Spielfeld applaudierten die Zuschauer, inzwischen waren es mehr als hundert. Die Einheimischen jubelten ebenso wie die neugierigen Fremden. Alessandro, der italienische Schiedsrichter, schnappte sich den Ball und pfiff das Spiel ab. Die gastgebenden Spieler freuten sich mit ihrem Gegner. Sie fanden, dass ein Remis eine gerechte Sache war, die Deutschen hätten die erste Halbzeit gewonnen und sie die zweite. Es wurde noch eine Weile über die Tore in den allerletzten Sekunden geradebrecht, dann reichte man sich die Hände. Die Deutschen hatten kaum noch die Luft, sich anständig zu verabschieden.

Angepasster Auszug aus Namaste Indien! ISBN 978-3-9808429-1-4
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