Vor ein paar Monaten lief ich auf der Suche nach einem Café, das mir empfohlen worden war, mit einem Freund durch Berliner Straßen. Ich wusste in etwa, wo wir hin mussten, hatte bei der Empfehlung jedoch nur eine Beschreibung des Cafés und den Straßennamen bekommen. Nach ein paar Minuten war er die Suche leid – "Hättest Du ein iPhone, könntest Du jetzt mit der GPS-App wenigstens sehen, wo wir sind."
Ich schluckte und sagte mir im Stile Heinrich Heines innerlich "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten…" Fast 200 Jahre nach ihm stelle ich mir diese Frage allerdings weniger im Zusammenhang mit einer Nixe als vielmehr in Bezug auf die immer größer werdende Abhängigkeit von iPhone, Blackberry und Co. Diese Episode ist eine von vielen täglichen Belegen, dass immer mehr Menschen an dem Phänomen so genannter digitaler Demenz leiden. Böse Zungen würden vielleicht sogar von Realitätsverlust sprechen, wenn man keine Telefonnummern mehr kennt, blind dem Navi folgt und alles per Google erfragt.
Nun – ich habe kein iPhone. Aber dank des Straßenschildes neben uns wusste ich trotzdem, wo wir waren.
Barbara Driessen schreibt in ihrem Artikel Generation Handy erkrankt an "digitaler Demenz:
"Bei der ‘digitalen Demenz’ handelt es [sich] nicht um eine Krankheit wie etwa bei der echten Demenz, die durch eine voranschreitende Verschlechterung kognitiver Fähigkeiten gekennzeichnet ist und nicht geheilt werden kann. Digitale Demenz ist vielmehr eine soziale und kulturelle Erscheinung, die die Veränderungen der modernen Gesellschaft verkörpert."
Im Jahr 2007 trat das Phänomen Gedächtnisverlust in Südkorea so häufig auf, dass Arbeitnehmer scharenweise zu Ärzten liefen, aus Angst sich nichts mehr merken zu können. Sind wir wirklich so abhängig von Speichermedien geworden, dass wir uns keine Telefonnummer, keine Postleitzahl und auch den Busfahrplan nicht mehr merken können? Diese Vermutung liegt nahe. Betroffene berichten davon, Schlüssel und Geburtstage zu vergessen. "Ich konnte Dich nicht anrufen, mein Handyakku war leer." Früher wäre man einfach in die nächste Telefonzelle gegangen und hätte von da Bescheid gesagt. Heute ist man aufgeschmissen, wenn die App versagt – zumal die Telefonnummer einzig und allein im Handy gespeichert war.
Denn wenn bestimmte Regionen des Gehirns und damit verbundene Fähigkeiten nicht mehr genutzt werden, verkümmern diese, da die Vorhaltung dieser Kapazitäten Energie benötigt, die auch anders eingesetzt werden kann und wird – zum Suchen.
Die Merkfähigkeit tritt also immer mehr in den Hintergrund, während die zur Suche eingesetzten Hirnregionen stetig stärker ausgeprägt werden. In der heutigen Zeit ist das eine auf dem Arbeitsmarkt vorausgesetzte Qualifikation. Viel weniger nachgefragt ist die Fähigkeit, etwa Die Glocke oder den Prometheus aufsagen zu können. Eigentlich schade. Und durch die permanente Auslagerung unseres Wissens (oder Halbwissens?) fehlen uns auch wichtige Verknüpfungen die wir benötigen, um Zusammenhänge zu verstehen.
Ob wir uns mit dem so genannten Copy&Paste-Syndrom einen Gefallen tun, ist fragwürdig. Natürlich ist es wichtig, mit den modernen Medien umgehen zu können und sich auch in der virtuellen Welt auszukennen. Aber bei der ständigen Sucherei geht auch viel Zeit verloren. Es spricht sicherlich nichts dagegen, das Internet und diverse Speichermedien als Plan B zu nutzen – aber diese vordergründig als ausgelagertes Zweithirn zu gebrauchen?
Die Vorteile – nicht der digitalen Demenz, sondern der Möglichkeiten heutzutage – liegen auf der Hand. "The world at your fingertips" ist schon lange mehr als ein Slogan. Man ist weltweit vernetzt – durch, über und trotz Facebook – kann virtuell durch Städte aus der frühen Kindheit gehen oder schon einmal den Urlaubsspaziergang testen und findet Informationen normalerweise sehr schnell.
Auch deshalb richtet sich die Schulbildung in der westlichen Welt immer stärker auf den Umgang mit digitalen Medien aus. Die Such- und Recherchekompetenz nimmt zu. Dabei wird die Merkfähigkeit nicht mehr so stark trainiert wie etwa noch zu Zeiten unserer Eltern oder Großeltern, die noch heute lange Gedichte aus dem Stegreif vortragen können.
"… ein Märchen aus uralten Zeiten…" – so geht das Gedicht von Heinrich Heine über die Loreley weiter.
Es spricht nichts dagegen, digitale Helferlein (genau wie die Online-Sprechstunde) ergänzend und nicht ersetzend zu nutzen.
In diesem Sinne allen Lesern ein schönes Wochenende.
Quellen und mehr:
Driessen, Barbara. (11. Oktober 2007).`Generation Handy erkrankt an "digitaler Demenz". <http://www.welt.de/wissenschaft/article1255758/Generation_Handy_erkrankt_an_digitaler_Demenz.html
>`_ Welt Online.
netdoktor.de Digitale Demenz: Zu viel Technik schwächt das Gehirn. netdoktor.de.
Rötzer, Florian. (11. Juni 2007). Droht uns die "digitale Demenz"? Telepolis.
The Library of Congress. Rural school girl, San Augustine County, Texas (LOC). Flickr.