krank oder übermüdet?

Der Mann sieht krank aus.
Ein mäßig korpulenter Mittfünfziger mit Schnauzbart, geröteten Augen und dicken dunklen Ringen darum. Gebeugte Haltung und leerer Blick, so ist er vorhin bei uns in der Ambulanz eingelaufen.
„An der Pforte wäre er beinahe kollabiert!“ flüstert Schwester Anna mir zu.
Jetzt schlurft er mit gesenktem Blick ins Sprechzimmer und läßt sich auf den Stuhl fallen.
„Was kann ich für Sie tun?“ frage ich.
„Ich kann nicht mehr. Helfen Sie mir!“
Er sagt das eine Sekunde zu schnell und meine Sensoren registrieren eine gewisse Theatralik in Stimme und Habitus.
„Hmmm“ sage ich. Mehr nicht. Soll er mal sebst aus der Reserve kommen.
„Können Sie mich nicht krank schreiben?“
Aha. Daher weht der Wind.
„Warum?“
„Mein Kreislauf….“
Kreislauf? Schwester Anna hat gute Vorarbeit geleistet: Blutdruck und Puls sind stabil und der EKG-Ausdruck, der da vor meiner Nase auf dem Schreibtisch liegt ist völlig unauffällig. Aber man soll seinen Patienten ja nicht immer gleich Böses unterstellen.
„Ja, Ihr Kreislauf?“
Er räuspert sich.
„Ich bin Lastwagenfahrer. Seit zwölf Stunden sitze ich am Steuer. Ohne Pause. Zuvor habe ich gerademal vier Stunden geschlafen. So geht das jetzt schon die ganze Woche. Vorhin bin ich fast am Steuer eingeschlafen, Sie wissen ja, Sekundenschlaf. Ich habe es noch geschafft, den Wagen bis zur Firma auf den Hof zu bringen und bin dann hierher…“
„Ist sowas denn erlaubt? Ich dachte, da gibt’s gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeiten…“
Er macht eine wegwerfende Handbewegung.
„Nicht in unserer Firma!“
„Und wenn Sie einen Unfall bauen? Sie könnten Menschenleben gefährden…“
Er schüttelt den Kopf.
„Sie kennen unsere Firma nicht!“
Nee, die Firma kenne ich wirklich nicht, denke ich während ich seine Lizenz zum Ausschlafen unterschreibe, Vollpension, Frühstück und Abendessen inklusive. Ein paar Infusionen werden wir ihm auch verpassen und morgen früh dann geheilt entlassen.
Ich verabschiede ihn mit festem Händedruck und dann gehe ich rauf auf Station um mir im Schwesternzimmer ein paar Liter Koffeinlösung in den Magen zu pumpen.
Und ein paar Streichhölzer bräuchte ich jetzt. Um meine Augen offen zu halten.

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