Nach einer halben Stunde weiß ich noch immer nicht, was dieser Jüngling eigentlich von mir will. Was hat ihn dazu getrieben, abends um dreiundzwanzig Uhr dreißig in die Ambulanz zu kommen?
Er habe sich vorhin beim Fitnesstraining in der Muckibude das Knie verstaucht. Oder war es doch die Schulter? Aber die tut schon seit drei Tagen weh. Nein, gestürzt ist er nicht und zu sehen ist auch rein gar nichts.
Schwester Anna hat ein wenig Diclo-Salbe draufgeschmiert – linkes Knie und rechte Schulter und ist dann nach nebenan gegangen.
Ich mache mich daran, den jungen Mann mit möglichst zuversichtlich wirkendem Blick und festem Händedruck zu verabschieden.
Er hat schon die Hand an der Tür und ich sehe, wie es in seinem Kopf arbeitet.
„Ist sonst noch was?“
Langsam schüttelt der den Kopf… drückt die Klinke… zögert und dreht sich nochmal um. Sorgfältig schließt er die Tür hinter sich.
„Doch, da wäre noch etwas, Doc!“
„Ja?“
„Also… könnten Sie mir nicht eine Spritze geben?“
„Wozu?“
„Ich meine, Testosteron…“
„Aha?“
„Mein… Hmmm… ich bin halt zu klein gebaut…“
Bei geschätzten einsfünfundachtzig Körpergröße bin ich davon nicht unbedingt überzeugt. Ich runzele die Stirn.
„…also, mein…“
Er deutet auf seine Körpermitte und wird rot.
Okay, ich verstehe.
Hose runter, dann zeigensemal! Es ist, wie vermutet: Das Geschlechtsorgan ist vielleicht nicht unbedingt als Raketensuperkracher zu bezeichnen, erfüllt aber immerhin, vielleicht leicht unterdurchschnittliche Normalmaße.
„Ist doch alles in Ordnung!“ sage ich.
„Nein, eben nicht!“
„Warum nicht?“
„Ich trau mich halt nicht… beim Training in der Dusche…“
„Bist Du schonmal deswegen gehänselt worden?“
Er schüttelt den Kopf.
„Und von Mädchen?“
Er wird rot. Okay, das ist auch eine Antwort.
Ich bemühe mich, noch zuversichtlicher dreinzuschaun und versichere ihm mehrfach, dass er keineswegs krank ist. Er geht schließlich. Aber ihm ist anzusehen: Geheilt habe ich ihn nicht.