In seinem Kurzgeschichtenband Ruhm erzählt Daniel Kehlmann die Geschichte der 70-jährigen todkranken aber noch agilen Rosalie, die sich dafür entscheidet, die kurze Zeit, die ihr noch zum Leben bleibt nicht leidend zu verbringen, sondern den Zeitpunkt ihres Todes bei vollem Bewusstsein und ohne Schmerzen selbst zu bestimmen.
Da aktive Sterbehilfe in Deutschland strafbar ist, geht Rosalie in die Schweiz, um sich in der Sterbewohnung eines Sterbehilfevereins mit einem Becher Gift das Leben zu nehmen. Dort ist Beihilfe zum Suizid zwar auch verboten, wird jedoch nur dann verfolgt, wenn sich der oder die Helfende bei der Tat durch selbstsüchtige Beweggründe leiten lässt. Nach Prüfung der medizinischen Fakten (unheilbar krank oder nicht) und des psychischen Zustandes (zurechnungsfähig oder nicht) beurteilt ein dortiger Arzt, ob sie sich „aus eigener Kraft und freiem Willen“ das Leben nehmen darf.
Ein ähnlicher Fall wurde 2004 im British Medical Journal von Cornelius Katona, Dekan an der medizinischen Fakultät der University of Kent, als „perfekter Tod“ beschrieben: „…seine Mutter [hatte] über den Therapieabbruch eigenständig entschieden und [ist] daraufhin ,würdig, selbstbestimmt‘, und unter ,voller Selbstkontrolle‘ gestorben.“
Für die meisten von uns ist der wünschenswerte Tod sicherlich eher ein sanftes Einschlafen. Die Vorstellung, sich etwa durch die Diagnose einer Krankheit oder infolge eines Unfalles mit einer weniger sanften Art des Sterbens beschäftigen zu müssen, schreckt viele Menschen ab. In Zeiten der modernen Medizin mit ihren lebensverlängernden Maßnahmen scheint ein solcher natürlicher Tod jedoch immer seltener zu werden. Durch diese Möglichkeiten rückt viel mehr die Frage in den Mittelpunkt, ob es den natürlichen Tod überhaupt noch gibt. Und wenn nein – sollte das Thema der Sterbehilfe in der persönlichen wie öffentlichen Auseinandersetzung nicht einen viel höheren Stellenwert einnehmen?
Ein Grund dafür, dass eine Beschäftigung mit der Thematik gescheut wird, ist sicherlich nicht zuletzt die Abneigung gegen das Thema Tod überhaupt. Darüber hinaus geraten Überlegungen zu Aspekten des Themas schnell an ethische Grenzen mit Fragen, die nicht eindeutig beantwortet werden können.
In seinem Artikel Der gute Tod: Zur Sterbehilfe in Europa fragt Markus Zimmermann-Acklin: „Was heißt würdig sterben, was selbstbestimmt, wie ist mit Situationen umzugehen, in denen die Selbstkontrolle zu entgleiten droht oder – wie bei schwer dementen oder komatösen Patienten – bereits unwiederbringlich erloschen ist? Inwieweit vermag [schmerzlindernde Fürsorge] tatsächlich Krisensituationen aufzufangen und ein Sterben in Würde zu ermöglichen? Wie weit soll eine Schmerz- oder Symptomtherapie gehen, die mit Wahrscheinlichkeit lebensverkürzenden Einfluss hat? Darf ein Arzt oder ein Angehöriger eines Patienten auch Beihilfe zum Suizid leisten, dessen Leben auf Verlangen oder aus Mitleid beenden?“
Bevor jedoch überhaupt Aussagen zu diesen schwierigen Fragen gemacht werden können, ist es dringend erforderlich, zunächst die verschiedenen Arten der Sterbehilfe voneinander abzugrenzen. Dies ist deshalb wichtig, da gerade in der aktuellen Debatte um das Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes vom 25. Juni deutlich wird, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Arten häufig nicht klar zu unterscheiden sind. So handelte die Heimleitung im verhandelten Fall um Erika Küllmer vor allem deshalb nicht, weil sie Angst vor den rechtlichen Folgen ihrer Entscheidung hatte.
Vier Arten der Sterbehilfe
Unterschieden werden aktive und passive Sterbehilfe, indirekte Sterbehilfe und die (ärztliche) Beihilfe zur Selbsttötung. Aktive Sterbehilfe wie im Falle von Rosalie ist eine so genannte „Tötung auf Verlangen“, die als die Gabe von direkt tödlichen Medikamenten definiert wird. Doch der Fall könnte auch ganz anders liegen.
Als passive Sterbehilfe wird das „Sterbenlassen“ eines Patienten in der Endphase des Lebens bezeichnet, insbesondere wenn dieser in einer Patientenverfügung lebensverlängernde Maßnahmen wie künstliche Ernährung oder Beatmung abgelehnt hat.
Alternativer Fall 1: Rosalie hat einige Jahre zuvor eine Patientenverfügung formuliert, in der sie alle lebensverlängernden Maßnahmen – auch künstliche Zuführung der Nahrung unabhängig von ihrer Form – ablehnt. Ihre als Bevollmächtigte eingesetzte Nichte setzt dies durch. Die künstliche Flüssigkeitszufuhr wird wie gewünscht nach ärztlichem Ermessen reduziert. Rosalie stirbt einige Wochen später.
Auch die indirekte Sterbehilfe ist eng mit der Patientenverfügung verknüpft. Das Ziel ist hierbei nicht die Herbeiführung des Todes, doch eine hohe Dosis von Schmerz- oder Beruhigungsmitteln wie Morphin kann eine geringe Lebenszeitverkürzung zur Folge haben. Die passive Sterbehilfe ist nicht strafbar, denn das Ziel ist ja nicht die Tötung, sondern eine Schmerzlinderung.
Alternativer Fall 2: Rosalie hat in ihrer Patientenverfügung bestimmt, dass sie bei Versagen aller sonstiger medizinischen Möglichkeiten zur Schmerz- und Symptomkontrolle den Einsatz bewusstseinsdämpfender Mittel zur Beschwerdelinderung erwartet. Eine ungewollte Verkürzung ihrer Lebenszeit durch schmerz- und symptomlindernde Medikamente nimmt sie in Kauf. Wie ihr Arzt angekündigt hatte, kommen die starken Schmerzen zum Schluss und Rosalie erhält eine hohe Dosis Morphin. Sie stirbt wenige Wochen nach der Diagnose.
Bei der (ärztlichen) Beihilfe zur Selbsttötung unheilbar kranker Menschen stellt der Arzt dem sterbewilligen Patienten ein tödlich wirkendes Mittel zur Verfügung. Der Patient muss dieses jedoch selbst einnehmen. Wie die indirekte Sterbehilfe ist auch die (ärztliche) Beihilfe zur Selbsttötung oder der assistierte Suizid in Deutschland nicht strafbar. Die dafür benötigten Wirkstoffe dürfen allerdings nicht spezifisch zu diesem Zweck verschrieben werden. Unter Umständen geht der assistierte Suizid also mit einem Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz einher.
Alternativer Fall 3: Rosalie liegt in einem deutschen Krankenhaus und es geht ihr immer schlechter. Die Schmerzen sind unerträglich, sie will sterben. Nach einem ausführlichen Gespräch mit Rosalie und ihrer Nichte stellt der Arzt einen Becher, der ein tödliches Medikament enthält, an ihr Bett. Durch einen Strohhalm trinkend kann Rosalie ihr Leben aus eigener Kraft und freiem Willen beenden.
Das deutsche Strafrecht kennt das Verbot der Tötung auf Verlangen, die Beihilfe zum Suizid ist jedoch nicht strafbar. Eine Beihilfe zum Suizid mit Hinweis auf unterlassene Hilfeleistung wird dagegen gerichtlich verfolgt.
Die hier beschriebenen Fälle dienen der Illustration der verschiedenen Arten von Sterbehilfe. Bei unserer Recherche hat sich gezeigt, dass in den seltensten Fällen die Sachlage so einfach wie beschrieben ist. Öffentliche Debatten zu diesem Thema werden kaum kontinuierlich geführt, sondern meist durch extreme Einzelfälle auf die Tagesordnung gerufen. Fälle wie die von Erika Küllmer in Deutschland, Vincent Humbert in Frankreich und Eluana Englaros in Italien verdeutlichen, wie viel schwieriger die Sachlage in der Realität sein kann.
Wenn Rosalie keine Patientenverfügung hätte, und sich ihre Nichte nicht für eine Beendigung des Lebens einsetzen würde, könnte es – je nach Rechtslage ihres Landes – auch sein, dass die Ärzte Rosalie auch gegen ihren Willen am Leben erhalten würden.
Das Thema Sterbehilfe ist sowohl für Patienten als auch für Ärzte ein schwieriges. Während sich Ärzte in der Vergangenheit mehrheitlich gegen assistierten Suizid aussprachen, dreht sich die heutige Debatte wie sie auch in der Bundesärztekammer geführt wird, viel mehr um die Frage, „ob ein Arzt der Not seiner Patienten gerecht [wird], wenn er sich ausschließlich auf seine Rolle als Lebenshelfer [beruft]“.
Jeder wünscht sich, auch im Alter noch fit und aktiv zu sein. Viele wollen sehr alt werden. Das kann die moderne Medizin möglich machen. Gerade deshalb ist es heute wichtiger denn je, sich auch mit dem Thema Sterben auseinanderzusetzen.
Quellen und weitere Informationen:
Bundesministerium der Justiz. (Januar 2010). Patientenverfügung.
Deutscher Bundestag. (2002). Schlussbericht der Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medizin“ http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/14/090/1409020.pdf
Füller, Ingrid. (23. Juni 2010). Eine Frage der Würde: Vor dem Bundesgerichtshof-Urteil zur Sterbehilfe. Deutschlandradio.
Lipp, Volker. (2005). Patientenautonomie und Lebensschutz: Zur Diskussion um eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe. Göttingen: Universitätsverlag.
Katona, Cornelius. (2004). A perfect death. British Medical Journal.
Kehlmann, Daniel. (2009). Ruhm. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag.
- Kröncke, Gerd. (26. September 2003). Sterbehilfe: "Dem anderen den Tod geben".
- Süddeutsche Zeitung.
Siegmund, Carina. (02. Juli 2010). Patientenverfügung: Über Kristallkugeln und schwere Entscheidungen.
Stern. (09. Februar 2009). Italien: Eluana stirbt nach jahrelangem Koma.
Zimmermann-Acklin, Markus. (01. Juni 2004). Der gute Tod: Zur Sterbehilfe in Europa. in Aus Politik und Zeitgeschichte: Biopolitik.