Patientenverfügung: Über Kristallkugeln und schwere Entscheidungen

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Foto: doctr.com

„Aller Menschen harrt der Tod, und keinen gibt‘s auf Erden, der untrüglich weiß, ob ihn der nächste Morgen noch am Leben trifft.“ (Euripides)

Vor einigen Wochen las ich das erste Mal über den Rechtsstreit um Erika Küllmer, einer Wachkomapatientin. Diese hatte ihrer Tochter einige Jahre zuvor mündlich mitgeteilt, dass sie, sollte sie einmal völlig hilflos sein, nicht künstlich ernährt werden wolle. Nach viereinhalb Jahren, in denen sich die Heimleitung weigerte, diesem Wunsch nachzukommen, schnitt die Tochter auf Anraten ihres Anwalts die ernährende Magensonde der Mutter durch.

Die Komplexität des Falles und die schwierige Rechtslage in Deutschland machten mich nachdenklich. Wenn es relativ einfach ist, Organspender zu werden oder sich als Knochenmarkspender registrieren und typisieren zu lassen, konnte doch eine Patientenverfügung nicht so kompliziert sein. Tatsächlich erwartete ich bei einer ersten Recherche im Internet, ein Formular zu finden, auf dem man – ähnlich wie beim Organspendeausweis – seine Vorstellungen klar darlegen kann, indem man ein Kreuzchen hier und ein Kreuzchen dort setzt. Weit gefehlt. Auch wenn die Suchmaschine mit Vorschlägen wie „Patientenverfügung Formular kostenlos“ meinen Vorstellungen anfangs Recht zu geben schien, musste ich schnell einsehen, dass ich im Netz der unbegrenzten Möglichkeiten primär Textbausteine, Vorlagen oder Wegweiser finden würde.

Das Zentrum für Medizinische Ethik in Bochum verzeichnet mehr als 180 verschiedene Muster mit unterschiedlichen Namen. Doch egal ob man es „Patientenverfügung“, „Patientenanwaltschaft“, „Patientenbrief“ oder „Vorausverfügung“ nennt – Ziel all dieser Formulare ist es, dass Ärzte und Bevollmächtigter in einem medizinischen Notfall schnell erkennen können, was der Patient wollen würde.

Angesichts der Vielfalt von Wertvorstellungen und religiösen Überzeugungen in Deutschland ist ein Jeder gefragt, seinen ganz eigenen Standpunkt zu formulieren. Die dabei vorerst wichtigste Frage ist, ob man sich ein kürzeres, dafür aber unabhängiges Leben besser vorstellen kann oder ein langes Leben – notfalls mit allen technischen und pharmazeutischen Möglichkeiten der modernen Medizin – vorzieht. Geht es also im Kern um die individuelle Präferenz von Quantität oder Qualität des Lebens?

Jede medizinische Behandlung erfordert die Zustimmung des Patienten. Kann der Patient nun aber infolge einer Krankheit oder einer Verletzung seinen Willen nicht verständlich äußern oder auch nur formen, so soll eine Patientenverfügung die Feststellung erleichtern, ob in einer exemplarischen Situation ärztliche Maßnahmen eingeleitet bzw. fortgeführt werden sollen.

Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) macht einige Vorschläge, wie eine Patientenverfügung zu verfassen ist, bietet dafür Textbausteine an und stellt eine 44-seitige Broschüre zur Verfügung.
Der empfohlene Aufbau einer Patientenverfügung mit möglichen persönlichen Ergänzungen sieht wie folgt aus:

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„Eine persönliche Auseinandersetzung mit der individuellen Lebenssituation und den eigenen Wünschen und Vorstellungen über Krankheit, Leiden und Sterben ist unerlässlich“, so die Broschüre. Die Formulierung der eigenen Werte sowie der Vorstellung von Leben und Tod soll nicht nur die Entscheidung für den Bevollmächtigten und die behandelnden Ärzte in einem Fall erleichtern, der nicht exemplarisch dargelegt wurde, sondern vielmehr auch die Ernsthaftigkeit der Patientenverfügung unterstreichen.

Meinem Wunsch, mich verantwortungsbewusst mit Leben, Krankheit und Sterben auseinanderzusetzen – auch um anderen eine solche Entscheidung abzunehmen – wurde durch diesen komplizierten Prozess ersteinmal ein jähes Ende bereitet. Es ist zweifellos wichtig, sich mit lebensverlängernden Maßnahmen bzw. der Verweigerung dessen ruhig und ausführlich zu befassen. Und kein vernünftiger Mensch würde eine solche Entscheidung zwischen Tür und Angel treffen. Doch die Notwendigkeit, erst einmal einen Aufsatz zu verfassen, ist eine große Herausforderung. Keiner von uns weiß, wann wir wie und woran leiden werden. Da nützen mögliche Ausgangssituationen wenig, und auch die Beispielbriefe sind hier nur bedingt hilfreich.

Es ist nämlich gar nicht so leicht, alle Wertvorstellungen und Wünsche auf Papier zu bringen, ohne in der Kristallkugel klar erkennen zu können, was noch kommt. Unzählige ethische, philosophische und theologische Fragen wirbeln durch meinen Kopf und machen mir die Entscheidung noch schwerer. Und am Ende geht es dann wirklich um die Frage: Quantität oder Qualität des Lebens? Doch genau da liegt der Hase im Pfeffer. Woran erkenne ich die Qualität des Lebens in einer Situation die ich noch gar nicht vor Augen habe? Woher weiß ich jetzt, was ich dann wirklich wollen werde?

Ich habe also Rat bei Freunden gesucht. Die meisten von ihnen konnten gar nicht nachvollziehen, warum mich das beschäftigt. „Du bist doch noch jung“ sagten sie.

Doch eine Patientenverfügung ist nicht nur für ältere Menschen relevant, auch wenn die meisten Menschen sich erst im Alter oder nach einer diagnostizierten Krankheit mit so etwas beschäftigen.

Es wäre wünschenswert, dass sich die Menschen nicht erst um ihre Behandlungsvorstellungen kümmern, wenn sie alt und/oder krank sind, da doch eigentlich wahrscheinlicher ist, unvorhergesehen – beispielsweise durch einen Unfall – die Kapazität zu verlieren, seinen Willen zu formen oder zu artikulieren. Doch gerade das ist schwierig. Bei Menschen, die an einer schweren unheilbaren Krankheit leiden, ist eher vorhersehbar, was kommen wird. Arzt und Patient können sich darauf einstellen und recht konkret benennen, welche Behandlungsmöglichkeit in diesem oder jenen Fall bestünde.

Ohne jedoch zu wissen, was mich erwartet, soll ich nun entscheiden, ob und welche lebensrettenden oder lebensverlängernden Maßnahmen ich wünsche. Es gibt scheinbar unendlich viele medizinische Möglichkeiten, für oder gegen die man sich entscheiden kann. Dabei wirkt die Option der Gabe von Antibiotika noch recht harmlos. Doch die schwierigste Frage, ob man tatsächlich lediglich lebenserhaltende Maßnahmen wünscht, bleibt im Raum. Das BMJ warnt davor, in einer Patientenverfügung Ausdrücke wie „unwürdiges Dahinvegetieren“ oder „qualvolles Leiden“ zu benutzen. All das ist – wie alle Vorstellungen und Wünsche im Dokument – persönlich zu definieren.

Wir haben nur ein Leben. Für den einen ist ein kurzes aber aktives Leben das bessere, für den anderen ist nichts wichtiger, als sehr lange zu leben. Die moderne Medizin macht das größtenteils möglich.

Unerlässlich erscheint mir in jedem Falle, sich beim Hausarzt oder einer Beratungsstelle zu informieren und eine Patientenverfügung mit einem Arzt durchzusprechen, um dann eine aufgeklärte Entscheidung treffen zu können.

Das ist meiner Meinung nach besonders wichtig für diejenigen, die die Schlussformel „Soweit ich bestimmte Behandlungen wünsche oder ablehne, verzichte ich ausdrücklich auf eine (weitere) ärztliche Aufklärung.“ wählen. Denn so schwer es ist, im Voraus eine Entscheidung über exemplarische Situationen zu treffen, so wichtig ist es, wenigstens in etwa zu wissen, was auf einen zukommen kann.

Ausgegangen war ich von der Situation, dass ich über mich und meinen Körper bestimme, damit nicht meine Eltern oder mein Partner oder ein anderer Bevollmächtigter in einer zweifelsohne schwierigen Situation eine solche Entscheidung treffen müssen. Gelernt habe ich, dass ein Bevollmächtigter im Zweifel die entscheidende Stimme hat und meinen Willen durchsetzen soll. Das ist besonders für die Fälle wichtig, die in der Verfügung nicht oder nur ungenügend vorhergesehen wurden.

Der Bevollmächtigte, den ich selbst bestimmen kann, sorgt dafür, dass meine Vorstellungen und Entscheidungen berücksichtigt werden. Selbst wenn ich nicht alles vorhersehen konnte, wird man in meinem Sinne entscheiden. Trotzdem muss niemand anderes diese schwierigen Entscheidungen über mein Leben treffen. Das finde ich tröstlich.

Ein Beitrag von Carina Siegmund

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