Den Rahmen sprengen – aber wie?

Wir sprengen den RahmenHeute beginnt in Bielefeld die Selbsthilfekonferenz „Positive Begegnungen“. Das Thema: Bilder vom Leben mit HIV. Davon gibt es so einige – und keins reicht aus

Wir sprachen mit zwei Mitgliedern der Vorbereitungsgruppe dieser Konferenz: Stefan Timmermanns ist Referent für Leben mit HIV/Aids bei der Deutschen AIDS-Hilfe. Michèle Meyer ist Präsidentin der Schweizer Selbstorganisation LHIVE.

Frau Meyer, Herr Timmermanns, das Motto der „Positiven Begegnungen“ lautet „Wir sprengen den Rahmen!“ Warum?

Meyer: Die öffentlichen Bilder vom Leben mit HIV, die zum Beispiel über die Medien vermittelt werden, berücksichtigen nie alle Facetten des Lebens mit HIV. Sie zwängen Menschen mit HIV in viel zu enge Rahmen. Deswegen müssen wir diese Rahmen sprengen.

Was für Bilder meinen Sie zum Beispiel?

Meyer: Zum Beispiel gibt es die Vorstellung: „Eine Frau, die HIV-positiv ist, muss ein Flittchen sein.“ Menschen werden auf Klischees reduziert.

Timmermanns: Bei vielen anderen Bildern stehen Elend und Tod im Vordergrund. Gezeigt werden HIV-Positive und Aidskranke in Afrika und anderen Ländern, in denen HIV besonders heftig wütet. Diese Bilder lassen Menschen glauben, HIV-Positiven in Deutschland ginge es ähnlich. Oder nehmen wir die Bilder der Kampagne „Aids ist ein Massenmörder“, die im letzten Jahr von sich reden machte: Gezeigt wurden Diktatoren beim Sex mit Frauen. Durch solche Kampagnen entstehen furchtbare Bilder von Menschen mit HIV.

Wie wirken diese Bilder auf HIV-Positive, zum Beispiel wenn sie noch nicht lange von ihrer Infektion wissen und noch kein gefestigtes Selbstbild haben?

Meyer: Gerade am Anfang einer Infektion verstärken sie Schuldgefühle und die Angst vor dem Verlauf der Krankheit.

Timmermanns: Diese Bilder bieten einfach keine Grundlage, um möglichst gesund und gut weiterzuleben …

Meyer: … und dabei wohlwollend mit sich selber umzugehen!

Timmermanns: Das Selbstbewusstsein wird geschwächt. Und psychischer Stress wirkt sich auch negativ auf das Immunsystem aus. Außerdem behindern diese Bilder den offenen Umgang mit der Infektion. Das ist fatal, denn Tabuisierung und Verdrängung von HIV können dazu führen, dass Menschen sich oder andere weniger schützen.

Das Leben mit der HIV-Infektion hat sich sehr verändert, seit es Medikamente gegen die Virusvermehrung gibt. Sind die alten Bilder untauglich geworden?

Meyer: Es geht nicht darum, neu gegen alt zu setzen. Es geht um die Vielfalt des Lebens mit HIV, die nicht berücksichtigt wird in den wenigen Bildern, die sich in den Köpfen eingebrannt haben.

Timmermanns: Vielfalt und Gleichzeitigkeit. Das Problem entsteht immer, wenn Bilder verallgemeinert werden.

Warum sind die Schreckensbilder so präsent, während das alltägliche Leben mit HIV in Deutschland kaum öffentlich zu sehen ist?

Meyer: Das alltägliche Leben mit HIV ist nicht halb so spektakulär. Wenn Sie bei dem Thema Sex and Crime weglassen, ist es nicht mehr sehr interessant.

Timmermanns: Medien funktionieren eben nach bestimmten Mustern. Auflage und Klicks erzeugt man durch Skandalisierung und durch starke Emotionen.

Wenn man sich Kampagnen wie “AIDS ist ein Massenmörder” anschaut, stellt sich die Frage: Welche Rolle spielt bei den öffentlichen Bildern von HIV die Angst?

Meyer: Eine große Rolle! HIV ist eine Projektionsfläche.

Timmermanns: Das sieht man auch an dem Prozess gegen Nadja Benaissa. Die junge Frau wird als Sündenbock durchs Dorf getrieben, weil viele Leute Angst haben, sich zu infizieren. Sie selber haben vielleicht bisher einfach Glück gehabt. Ihre Angst und ihr schlechtes Gewissen entladen sich nun in einem moralischen Aufschrei über jemanden, der weniger Glück hatte. Dabei stehen letztlich alle Menschen am Pranger, die sich in Risikosituationen schon einmal nicht geschützt haben.

Sie haben es also mit Medienmacht und starken Emotionen zu tun. Wie schafft man es, so einen mächtigen Rahmen zu sprengen?

Timmermanns: Wir nehmen die Produktion der Bilder selber in die Hand!

Meyer: In unserem Fotoprojekt „Du sollst dir ein Bild machen!“ können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre eigenen Bilder von ihrem Leben mit HIV gestalten, indem sie sich mimisch und gestisch darstellen. Die Fotos werden dann im Großformat in der Bielefelder Innenstadt gezeigt. Später soll eine Wanderausstellung daraus werden.

Timmermanns: In einem Videoworkshop wird außerdem ein kurzer Film entstehen. Er wird anschließend ins Internet gestellt.

Meyer: Was mir besonders wichtig ist: Wir versuchen auf dieser Konferenz auch, unsere eigenen Bilder aufzubrechen, aufzuweichen und zu ergänzen. Wir müssen uns auch selber klar darüber werden, dass wir sehr unterschiedlich sind und ganz unterschiedliche Erfahrungen machen. Deswegen heißt ein Workshop: „Wie viele Bilder halten wir aus?“ Die Community braucht so eine Debatte, um anschließend selber neue Bilder hervorbringen zu können.

Welche Bilder sollen von Ihrer Konferenz denn ausgehen?

Timmermanns: Ein breites Spektrum. Auf der einen Seite gibt es Sterbende in Afrika, die keine Medikamente bekommen. Auf der anderen Seite gibt es den erfolgreichen Manager in Deutschland, der einmal täglich seine Pillen nimmt – der aber vielleicht in seiner Firma nicht über seine Infektion reden kann. Zwischen diesen beiden Polen gibt es unzählige Geschichten und Bilder. Sie sind alle richtig – nur gibt es eben nicht das eine Bild von HIV.

(Interview: Holger Wicht)

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