Der erste Krankenhausaufenthalt, Fortsetzung
Als Herr M. sich von seinem Kollaps erholt hat, liegt er auf einer Trage, über ihm baumelt eine Infusionsflasche. Die nächste Schmerzwelle bahnt sich an. Man reicht ihm ein Schmerzmittel. Er wird in die Röntgenabteilung geschoben, Blut wird ihm abgenommen. Eine weitere Stunde später steht die Diagnose: Harnleiterstein links. Der Patient ist erleichtert, weil er glaubt, eine Diagnose führt zur Therapie (nicht ganz zu Unrecht). Aber dieser Tag ist nicht sein Glückstag:
„Herr M., Sie haben einen Nierenstein, links.“
Herr M. nickt ergeben.
„Da können wir leider nichts für Sie tun. Wir haben hier keine urologische Abteilung. Wir müssen Sie verlegen. Der Krankenwagen kommt gleich.“
Herr M. ist fassungslos. Er hat Schmerzen, der Grund ist klar, er liegt in einem Krankenhaus und man kann nichts für ihn tun. Er fürchtet sich vor der Fahrt mit dem Auto (ebenfalls nicht zu Unrecht, denn die Fahrt wird zum Höllenritt).
Einschub
Wenn der Leser an dieser Stelle glaubt, ich übertreibe, weil übertreiben anschaulich macht, dann muss ich den Leser enttäuschen. Im Gegenteil, ich habe mich bei Niederschrift dieses Artikels entschlossen, einige haarsträubende Einzelheiten wegzulassen, weil die Wirklichkeit nicht glaubhaft erscheint. Das passiert mir in letzter Zeit übrigens immer häufiger, immer wieder klingen Berichte aus Krankenhäusern unglaubwürdig haarsträubend – zumal aus gewinnorientierten.
Bleibt die Möglichkeit eines Kommunikationsproblems. Wir Ärzte kennen das, der Unterschied zwischen dem, was gesagt wird und dem, was beim Patienten ankommt, erinnert an das Kinderspiel „Stille Post“. Es erscheint unglaubwürdig, dass jemand zum Patienten M. gesagt hat, „wir können nichts für Sie tun.“ In diesem Fall ist der Wortlaut zu vernachlässigen, einzig das Ergebnis zählt. Herr M. wird tatsächlich verlegt.
Im nächsten Krankenhaus
Die Schmerzmittel, die man Herrn M. bis zu diesem Zeitpunkt gegeben hat, wirken unzureichend. Herr M. leidet. In der Urologie der Nachbarstadt verharrt er knapp zwei Stunden unbemerkt in der Aufnahmeabteilung. Die Krankenwagenfahrer haben ihn dort abgestellt, ein Krankenschwester hat seine Personalien aufgenommen und gesagt, dass gleich ein Arzt käme. Das Wörtchen “gleich” kennt Herr M. schon. Er hat Schmerzen, Durst und muss aufs Klo. (Ich muss den Leser an dieser Stelle enttäuschen, es kommt nicht zu der Pointe, dass es im Urinbecken klimpert.)
Der Patient erhebt sich, nimmt die Infusionsflasche und sucht in der Einsamkeit der Flure nach einer Toilette. Es geht ihm nicht schlecht, und er hat die Nase voll. Seit der ersten Schmerzattacke im Speisewagen sind acht Stunden vergangen.
Weiterhin unbehelligt von jeglicher medizinischer Betreuung kehrt er zu seiner Trage zurück. Er sieht sich um, entdeckt Kompressen und Pflaster und ist entschlossen zu gehen. Er stellt die Infusion ab, zieht die Nadel und versorgt sich selbst mit einem kleinen Verband. Das hat er mal im Fernsehen gesehen. Er nimmt seine Jacke, seine Reisetasche und verlässt das Krankenhaus.
Sein Verhalten ist verständlich, aber keine Lösung. Es ist mitten in der Nacht. Immerhin geht es sechs Tage gut. Von Sonntag bis Samstag.
(Wer als lesender Arzt an dieser Stelle den Kopf heftig über das Verhalten des Patienten schüttelt, sollte sich einmal selbst gedanklich in ein Wartezimmer versetzen – mit Termin oder als Notfall. Nach zehn Minuten würde man ungeduldig auf dem Stuhl herumrutschen, nach einer Viertelstunde begänne der Blutdruck zu steigen, nach zwanzig Minuten stünde man am Empfang und würde mehr oder weniger freundlich darauf aufmerksam machen, dass man ein Termin hätte oder ein Notfall sei. Im Falle des Patienten M., der zugegeben kein einfacher Mensch ist, ging es nicht um Minuten, es ging um Stunden, viele Stunden und um heftige Schmerzen.)