Selbsthilfe: Zurück zu den Wurzeln oder mehr Professionalität?

Kompass

Welche Richtung geht die Selbsthilfe?

Einst galten sie als „wild gewordene Patientenmeute“, heute sind Selbsthilfegruppen eine tragende Säule der Gesundheitsversorgung. Doch der Erfolg hat seinen Preis

Die Zahlen klingen nach Boom-Branche: 70.000 Selbsthilfegruppen gibt es in Deutschland mit 3 Millionen Mitgliedern. Bei Interesse kann man sich an 280 Kontaktstellen wenden – von A wie Aidshilfe bis Z wie Zahnmetallschädigung.

Trotzdem steckt die Selbsthilfe in der Krise. Die Ursache: ihr großer Erfolg. In den vergangenen 20 Jahren ist die Selbsthilfe zur „dritten Kraft” des Gesundheitssystems herangewachsen, neben traditionellen Wohlfahrtsverbänden wie der Caritas auf der einen und Kostenträgern wie den Krankenkassen auf der anderen Seite.

Nun stehen viele Organisationen am Scheideweg. Was wollen sie sein – professioneller Gesundheitsdienstleister oder unabhängige Bewegung?

Saubere Dienstleistungen, aktuelle Informationen

Entscheiden musste sich auch die Deutsche Morbus Crohn / Colitis ulcerosa Vereinigung (DCCV). Sie vertritt Menschen, die unter chronischem Durchfall leiden. „Es ist nicht in erster Linie die Solidarität, die unsere Mitglieder antreibt“, stellt Burkhard Stork fest. Der 37-Jährige leitet die Bundesgeschäftsstelle der DCCV in Berlin. „Unsere Mitglieder erwarten saubere Dienstleistungen.“ Dazu gehörten medizinische Informationen – „topaktuell und für Laien verständlich aufbereitet“ – sowie individuelle Beratung, vor allem in sozialrechtlichen Fragen.

Der Unterschied zu anderen Beratungsangeboten, etwa beim Arzt: „Wir haben den Alltag der betroffenen Menschen im Blick. Diese Fähigkeit trägt die DCCV bis heute.“ Stork nennt ein Beispiel: Die DCCV kämpft für den Erhalt der tariflichen Zigarettenpausen. Denn mit deren Einschränkung wird es auch für von ständigem Durchfall geplagte Menschen schwieriger, während der Arbeit häufiger auf der Toilette zu verschwinden.

Einst war Selbsthilfe die einzige Antwort auf Aids

Vieles spricht dafür, dass auch die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) immer mehr zur Dienstleisterin wird. Denn HIV und Aids haben sich im vergangenen Jahrzehnt stark gewandelt. Am Anfang war die Selbsthilfe die einzig sinnvolle Antwort auf die neue, todbringende Krankheit Aids, denn Wissenschaft und Gesundheitssystem standen ratlos vor der unbekannten Seuche. In größter Not konnten sich HIV-Positive auf die Solidarität von engagierten Menschen verlassen.

Heute ist HIV eine chronische Krankheit, mit der richtigen Therapie führen HIV-Positive ein fast normales Leben. Die Folge: neue Aufgaben für die Aidshilfen. „Die Deutsche AIDS-Hilfe arbeitet in einem Geflecht aus Selbsthilfe, Dienstleistung und Lobby-Arbeit, auch weil sie in den letzten Jahren mehr zu einer Interessenvertretung für chronisch kranke Menschen geworden ist“, analysiert DCCV-Chef Burkhard Stork. „Sie muss nun – wie viele andere Organisationen auch – immer wieder beweisen, wie wichtig diese Selbsthilfe ist!“

Mehr Professionalität, mehr Verantwortung

Die Arbeit der Selbsthilfeinitiativen ist unverzichtbar – das steht außer Frage. Das deutsche Gesundheitssystem orientiert sich heute sehr viel stärker an den Bedürfnissen der Patienten, auch weil die Selbsthilfen beharrlich darauf gedrängt haben. Längst sind ihre Vertreter als wichtige Ansprechpartner akzeptiert, im Gemeinsamen Bundesausschuss handeln sie mit Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen den medizinischen Leistungskatalog aus.

Die andere Seite der Medaille: Durch die Einbindung ins öffentlich-rechtliche Gesundheitssystem werden die Selbsthilfeorganisationen zum Player im knochenharten Kampf um Gesundheitsleistungen. Burkhard Stork spürt das Dilemma am eigenen Leib: Er vertritt die DCCV in einem Unterausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses. „Das ist einerseits gut, weil ich in unserem Sinne Einfluss nehmen kann. Andererseits trage ich so Mitverantwortung, wenn medizinische Leistungen für andere Menschen gekürzt werden.“

Dazu kommt: Je mehr sich Selbsthilfevertretungen einmischen, umso professioneller müssen sie sich organisieren. „Allein in meinem Unterausschuss kommt kaum eine Sitzung mit weniger als 1000 Seiten Unterlagen aus“, berichtet Stork. „So banal das klingt: Eine kleinere Selbsthilfeorganisation wie die DCCV braucht erstmal einen Laptop und einen Drucker, die mit dieser Datenmenge umgehen können.“

Kernaufgabe Aufklärung

Die engagierten Menschen vor Ort beobachten die neue Lobby-Arbeit ihrer Organisationen mit gemischten Gefühlen – nicht nur bei der kleinen DCCV, wo Ehrenämter und Vorstandssitze ausschließlich an Personen vergeben werden, die an einer der beiden Krankheiten leiden. Auch die Aktion Mensch hat sich neu orientiert. Die 1964 gegründete Soziallotterie ist einer der erfolgreichsten sozialen Fundraising-Vereine. 2009 konnte sie über 166 Millionen Euro an Projekte der Behindertenhilfe sowie der Kinder- und Jugendhilfe ausschütten.

„Wir verstehen uns einerseits als Bühne, auf der wir zusammen mit Selbsthilfe- und Sozialorganisationen in die breite Bevölkerung hinein wirken“, erläutert Friedhelm Peiffer, der Bereichsleiter Förderung bei der Aktion Mensch. „Andererseits sind wir ein Förderer, der Projekte mit anschiebt.“ Immer wichtiger wird dabei die Aufklärung jener Menschen, die nicht von Behinderung betroffen sind. So vergibt die Aktion Mensch auf Anregung ihrer Förderprojekte den „Biene“-Preis für die beste barrierefreie Website. „Mit unserer Arbeit wollen wir ganz persönliche Einstellungen und Haltungen beeinflussen“, betont Peiffer, „da sehe ich eine Gemeinsamkeit von Aidshilfe und Aktion Mensch.“

Selbsthilfe kann man nicht verordnen

Könnte die Aktion Mensch ein Vorbild für eine Weiterentwicklung der Selbsthilfe sein? Wolfgang Thiel betrachtet den Trend zur Professionalisierung eher skeptisch. Der Wissenschaftler untersucht seit Jahren den Wandel der Selbsthilfebewegung für die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS). Sein Fazit: „Nichts spricht dagegen, sich das nötige Know-how anzueignen. Aber die Vereine sollten sich nicht zu stark an die Strukturen und Denkweisen der professionellen Hilfsangebote anpassen.“

Vor allem die Arbeit im Gemeinsamen Bundesausschuss habe die Sozialhilfe-Landschaft radikal verändert. Um dort bestehen zu können, engagieren sich viele Selbsthilfevereine externe Fachleute, denn nur so können die Patientenvertreter mit den Krankenkassen auf Augenhöhe verhandeln. „Aber der spezifische Blick der Betroffenen droht verloren zu gehen“, warnt Thiel. „Selbsthilfe kann man ja nicht verordnen.“

Denn: Selbsthilfegruppen lassen sich nicht umstandslos in die professionelle Gesundheitsversorgung integrieren, zum Beispiel weil die oft ehrenamtlichen Ansprechpartner häufig wechseln. Ersetzt man sie durch hauptamtliche Profis, ist das Problem behoben, gleichzeitig wird das Klima in der Gruppe nüchterner, geschäftiger. Oft zu geschäftig: „Selbsthilfe muss eine Heimat bieten“, betont Thiel. „Wenn sie das nicht tut, bildet sich eine neue Bewegung“ – zur Not auch gegen traditionsreiche Vereine wie die Aidshilfen.

(phei)

Weitere Informationen
Wie zeitgemäß ist Selbsthilfe? Ein Interview mit Wolfgang Thiel von NAKOS (Audiocast)

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