Mit seinem ersten Buch „Wie wollen wir sterben?“ legt
Michael de Ridder ein durchdachtes, fundiertes und bewegendes Plädoyer für ein
menschlicheres Sterben vor. Als Leiter der Rettungsstelle des
Urban-Krankenhauses in Berlin-Kreuzberg verfügt er über viel Erfahrung im
Umgang mit Sterben und Tod. Offen und ehrlich schildert er den Graubereich,
indem sich Ärzte als Anwälte des Lebens tagtäglich bewegen. Mit der Entwicklung
der Hochleistungsmedizin werde die Reanimations- und Behandlungskette zum
Selbstläufer. Auch sehr alte Menschen werden mit allen zur Verfügung stehenden
Mitteln ins Leben zurückgeholt.
Zum Beispiel geben Pflegeheime demente
Patienten im hohen Alter noch einmal auf die Intensivstation, weil sie nicht
die Verantwortung übernehmen können. Dort werden sie nach allen Regeln des
diagnostischen und therapeutischen Wissens behandelt. Der mögliche Vorwurf,
nicht alles getan zu haben, wiegt zu schwer. De Ridder kritisiert scharf die
Haltung vieler Mediziner eher dem technologischen Imperativ zu folgen anstatt
dem Wohl des Patienten. „Wann“ fragt er „ist man so krank, dass man sterben
darf?“ Mit Dialyse, Beatmung und Sondenernährung könne der Todeszeitpunkt
nahezu beliebig hinausgeschoben werden. Heute leben ungefähr 100.000 Menschen
an Schläuchen.
Anhand erschütternder Beispiele schildert der Autor, wie der
Einsatz der Apparatemedizin über die Menschlichkeit gestellt wird. Es gehe in
der alltäglichen medizinischen Praxis um die Funktion einzelner Organe oder
Organsysteme. Die Frage nach dem Schicksal des Patienten stehe nicht im Zentrum
ärztlicher Aufmerksamkeit. Dabei behandeln Ärzte Menschen, nicht Organe. Zudem
gibt es ein großes Ungleichgewicht zwischen der Mittelverteilung zwischen
Kurativ- und Akutmedizin auf der einen und Palliativmedizin und der Pflege
chronisch Kranker und Alter auf der anderen Seite. Deutschland gibt pro Jahr
ca. 260 Milliarden Euro für die Gesundheit aus, aber nur ein Bruchteil davon
fließt in die Betreuung Sterbender.
Zum 24. Juni 2010 wurden die
Richtlinien zur SAPV (spezielle ambulante Palliativmedizin) geändert. Anspruch
auf die SAPV besteht nun nicht mehr nur im Heim und in der häuslichen, sondern
auch in der familiären Umgebung und in Einrichtungen der Eingliederungshilfe
für behinderte Menschen sowie in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Sterbenden
Menschen steht nun unabhängig von ihrem Aufenthaltsort SAPV zu.
Einen Tag später entschied der Bundesgerichtshof mit seinem
Urteil zur Sterbehilfe, dass der Abbruch lebenserhaltender Behandlungen künftig
nicht mehr strafbar ist, wenn ein Patient dies in einer Verfügung festgelegt
hat. Der frei verantwortlich gefasste Wille muss in allen Lebenslagen
berücksichtigt werden. Damit bekommen Patientenverfügungen eine stärkere
Bedeutung. Das bedeutet mehr Rechtssicherheit in der passiven Sterbehilfe – für
alle Beteiligten. Trotzdem ist die Debatte über Patientenverfügungen
kompliziert und wird emotional und kontrovers geführt. Denn eine Patientenverfügung
lässt viel Raum für offene Fragen und Interpretationsmöglichkeiten.
De Ridders Argumentation ist schlüssig, die Fakten sind
fundiert und die Beispiele treffend. Er beleuchtet das Thema von allen Seiten
und berücksichtigt auch umstrittene Aspekte. Das Buch gibt nicht nur interessierten Laien einen
sprachlich und inhaltlich gut verständlichen Einblick in die Palliativmedizin.
Auch jeder angehende Mediziner sollte dieses Plädoyer lesen. Hier wird ein
Thema behandelt, das uns alle angeht.
Rezension zu: „Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches
Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin“ von
Michael de Ridder (2010). München: Deutsche Verlags-Anstalt. 315 Seiten.