Heimat als sozialer Raum

Meine Großmutter wurde 1935 als zweites von vier Kindern
in einer Berliner Beamten Familie im Wedding geboren. Ihre
Kindheitserinnerungen sind schwarz-weiß-rot geflaggt. 1943 wird das achtjährige
Mädchen mit ihrer Familie ins damalige Ostpreußen, Nähe Tilsit, evakuiert. Die
Flucht vor der Roten Armee zwingt sie im Januar 1945 nach Irgendwo: zu fremden
Leuten, in fremde Zimmer, Dörfer, Städte. Flüchtlinge waren nicht sehr beliebt,
es gab zu viele davon in jener Zeit. Ihre Eltern, fest verwurzelt in Berlin,
werden ihr Leben lang ihrer verlorenen Heimat nachtrauern. Die endlose Odyssee
durch die Fremde endet im Harzvorland, in Aschersleben. Mehrmals versucht die
Familie in ihre Heimat zurückzukehren. Ohne Erfolg.

Das Mädchen verbringt ihre Jugend in Aschersleben. Doch
Ausbildung, Studium und Berufstätigkeit halten neue Stationen für sie bereit.
Erst mit ihrer Heirat 1957 stellt sich erstmals ein Gefühl von Sesshaftigkeit
ein. Sie bekommt mit ihrem Mann drei Kinder und lebt seit 50 Jahren in
derselben Stadt. „Oma“, frage ich, „was ist deine Heimat?“

Heimat ist für meine Oma nicht die Stadt, in der sie seit
Jahren lebt. Sie hat sie sich nicht ausgesucht. Sie könnte auch woanders leben.
Für meine Oma ist Heimat weniger Ort, sondern vielmehr Gefühl: Heimat ist dort,
wo sie die Geborgenheit in der Familie spürt, wo sie Spuren hinterlassen hat
und wo sich Erinnerungen ranken. „Dort“ ist nicht mit „Ort“ gleichzusetzen.

Psychologisch ist die Bezeichnung „Heimat“ assoziiert mit
drei menschlichen Grundbedürfnissen: dem Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit,
Einbindung und Anerkennung (sense of community), dem Bedürfnis nach
Beeinflussung, Gestaltung und Handlungsmöglichkeit (sense of control) und dem
Bedürfnis nach Sinnstiftung, Vertrautheit und einbettenden Erzählungen (sense
of coherence).

Diese drei Grundbedürfnisse zeigen sich heute weniger im
Begriff der „Heimat“, sondern viel 
eher in der Bezeichnung „Wahlheimat“. Ursprünglich beschreibt der
Begriff Heimat das „an die Scholle gebunden sein“. Er ist heute immer noch eng
mit dem Herkunftsort verbunden. Der Begriff „Wahlheimat“ löst die Kopplung zum
Herkunftsort – genau so wie viele Menschen es tun. Der Herkunftsort hat uns
geprägt, aber unsere Heimat ist dort, wo unsere Grundbedürfnisse befriedigt
werden: wo wir uns wohl fühlen, wo unsere Familie und unsere Arbeit ist, wo
unsere Freunde sind. Heimat ist heute in erster Linie ein sozialer Raum, den
Menschen in Überstimmung mit ihrer Person suchen und gestalten.

Damit ist
unsere Wahlheimat identitätsstiftend und Beheimatung ein aktiver Prozess.

Quelle: Beate Mitzscherlich: „Heimat ist etwas, was ich
mache. Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von
Beheimatung.“, Centaurus Verlag & Media.

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